Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
abbiegen. »Äh... Schokocroissant?« Ich seufzte und ließ den Besitzer seiner vorwitzigen Nase folgen. »Richtig!«, jauchzte es unter der Schalke-Mütze. »Bedien dich«, jauchzte ich himmelhoch zurück. Nie war eine Aufforderung überflüssiger gewesen.
Borsig machte sich sofort über den Rest in der Tüte her – mein Herz weinte, als ich es »Rest« nannte – und nötigte mich zu abermaligem Kaffeekochen. Die Aussicht, sehr bald als livrierter Chauffeur in Diensten der High Society zu stehen, schien ihn überraschenderweise über Nacht beflügelt zu haben, seine Tischmanieren ließen noch arg zu wünschen übrig, aber auch hier würde die lehrende Hand Oxanas Wunder vollbringen. Oder hatte der kleine Mann einen anderen Grund für seine gute Laune? Ich ließ ihm Zeit und verordnete mir Geduld, wie ein Arzt Schwitzkuren oder Blutegelkuren verordnet. Mein Schokocroissant, ein gediegener Bat zen süßgefüllter Köstlichkeit, verschwand mit zwei Bissen in Borsigs Magen, eine Tasse des inzwischen frisch gebrühten Kaffees spülte alle krümeligen Indizien der verruchten Tat hinab. »So«, machte der Dieb und versuchte sich an einem Bäuerchen, »dafür sollst du auch mit prima Infos belohnt werden.«
Ich wartete gespannt. Ob ich mich noch an Anja erinnere? Regitzens Studentin? Mit der er in dieses – wie heißt der Ort noch mal? – St. Malo? – na egal, also die ihn jedenfalls begleitet habe? Ich erinnerte mich. »Nun denn«, lächelte Borsig, »die junge Dame ist wieder zu Hause bei Mama und Papa. Kleiner Kontrollanruf, schon hatte ich sie an der Strippe. Todunglücklich, das arme Kind, da eröffnet sich für unsereinen ein neues Jagdrevier, möchte ich mal sagen.« Ich winkte ungeduldig ab. »Komm zur Sache, Mann!« »Ja, ja«, wiegelte der ab, »immer mit der Ruhe. Anja ist knatschig, kannst mir glauben. Sie hat so einiges zu erzählen gehabt. Willst hören?« Ich riss ihm das Mützchen vom Kopf und warf es in eine staubige Ecke.
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Es brauchte einige Zeit, um aus Borsigs sukzessiven und häufig erst nach mehrmaliger Korrektur wasserdichten Informationen das Gerüst einer einigermaßen vernünftigen Geschichte zu rekonstruieren. Wahrscheinlich steckte schnöde materialistische Taktik dahinter und der Bursche gedachte die Datenabgabe so lange hinauszuzögern, bis sich ein Mittagessen nicht mehr umgehen lassen würde. Aber lieber würde ich Hungers sterben, als in diesen plumpen Leim zu tappen.
Die Geschichte begann wie erwartet damit, dass Borsig mit seiner Anja Richtung Bretagne gegondelt war. Das gute Mädchen hatte keine Ahnung, was Bor sig dort wollte, freute sich aber mächtig auf Paris, wo man einen Zwischenstopp einlegte, um im Rekordtempo die Sehenswürdigkeiten abzuklappern. Regitz war, so schien es, ein durchaus kulturell beflissener Mensch, der nicht sterben wollte, ohne den Eiffelturm mit eigenen Augen gesehen, einen Milchkaffee getrunken und die Mona Lisa angestarrt zu haben. Auf einem Parkplatz in den Banlieues war schließlich das Thema »Paris – Welthauptstadt der Liebe« sehr schnell und unbequem im Auto abgehakt worden, bevor man sich wie die frühen Pioniere der amerikanischen Nation westwärts orientierte, um noch vor Einbruch der Nacht die schöne Stadt an der bretonischen Küste zu erreichen.
St. Malo, erzählte Anja mit tränenerstickter Stimme, habe sie imposant empfangen. Schöne Altstadt mit einer großen Mauer drumherum, kaum Tourismus und keine in den großen Sommerferien lärmenden und kotzenden Franzosen, schließlich war es Weihnachtszeit und für einen Sonnenbrand musste man ins Solarium gehen. Ein Hotelzimmer war schnell gefunden, winzig und preiswert (also von wegen kleines Ferienhäuschen dort), das dazugehörige Restaurant winzig und sauteuer, aber eben französisch, das heißt die Portionen winzig und gut. Überhaupt ein romantischer Abend mit Spaziergang am Strand, Blick aufs Meer und vorgelagerte Inseln, das Spiel der Gezeiten – St. Malo sei da quasi führend, riesiger Abstand zwischen Ebbe und Flut – und zum Beschluss der schönen Stunden ein paar hauchdünne Crêpes mit diversen Aufstrichen in einem Lokal, das logischerweise Cr ê perie genannt wurde. Kein Geschlechtsverkehr; dazu waren die Betten zu weich (Regitz hatte Probleme mit der Bandscheibe) und außerdem das Programm für den nächsten Tag zu anstrengend, wie Anja hier zum ersten Male erfuhr, ohne allerdings Näheres dazu.
Zum Frühstück ging man in ein zünftiges Café und vertilgte – hier
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