Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
ausgestorben.«
»Und Gebhardt und Lonig?« Irmi lachte. »Ja, das ist das einzige, was mich in dieser verfluchten Stadt noch an meine Familie erinnert. Da haben sie sich vor vierzig Jahren eingekauft, später, als alles den Bach runterging, haben die Gebhardts den Namen behalten, war halt gut eingeführt.« Es gab also keinen Herrn Lonig – aber irgendwie gab es ihn doch, Lydia Gebhart hatte ihn erwähnt.
Irmi schwieg und im Stillen dankte ich ihr dafür, dass sie mich mit weiteren Details ihrer Familiengeschichte verschonte. Sollte man einen Fernseh-Vierteiler daraus machen, würde ich gnadenlos weiterzappen. »Aber die Sache mit den Kindern ist wirklich übel. Das hätte ich Helga und Mo nika nicht zugetraut.« Jetzt war es an mir, den ganzen gesammelten Pessimismus meiner Lebenserfahrungen in eine wegwerfende Handbewegung zu legen. Geht doch um Kohle, Mensch! »Würde mich nicht wundern, wenn sich auch das schönreden ließe und irgendjemand die Idee aufgreift und ‚Arbeitsplätze!’ krakeelt.«
Dem hatte Irmi nichts entgegenzusetzen. »Ich red aber mal mit den Mädels. Sind ja keine schlechten, nee, bestimmt nicht. Gibst mir deine Telefonnummer?« Sie wäre die erste Frau gewesen, der ich meine Telefonnummer nicht gegeben hätte. Irmi nötigte mich zu einem letzten klebrigen Oralmissbrauch und tatsächlich, wenn man besoffen genug war, schmeckte das Zeug gar nicht mal so übel. Wir küssten uns an den Wangen vorbei, ich sagte der Holzstiege Adieu – sie knurrte mir nur verächtlich ‚hau ab’ hinterher – und trat in die Nacht, in die Stille, in die Kälte.
Es war ein anstrengender Tag gewesen, viele Fragen, viele Antworten, aus denen noch mehr Fragen gekrochen kamen, ich konnte gar nicht so schnell laufen, wie ich vor ihnen Reißaus nehmen wollte. Der 29. Dezember, dämmerte es mir, als vom Kirchturm ein einsamer Schlag verhallte. Einen Lonig gab es nicht, einen Herrn Lonig gab es wohl. Vielleicht ein Untoter, vielleicht der krimibekannte Onkel, der vor 50 Jahren nach Südamerika auswanderte, dort verscholl, für tot erklärt wurde und jetzt als Finsterling die alte Heimat beehrte. Südamerika? Chile? Zu Chile gehörten die Osterinseln. Tinnef. Gut, dass ich keine Ambitionen zur Kriminalschriftstellerei hegte, mit meiner durchgeknallten Phantasie würde ich es im Handumdrehen zum Bestsellerautor bringen.
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Es war genau zwei Uhr, als ich die Augen schloss und von den Liebeslauten einer rolligen Katze (konnte auch meine Nachbarin gewesen sein) in den Schlaf geschickt wurde. Das nächste, was ich von diesem 29. Dezember hörte, klang wie das Hupen eines Autos und weckte mich. Da ich zu träge war, auf meine Armbanduhr zu gucken, wartete ich auf den nächsten vollen Glockenschlag vom Kirchturm, er kam nach einer gefühlten Ewigkeit und verkündete mir – wenn ich mich nicht verzählt hatte –, es sei exakt elf Uhr. Ich glaubte ihm und mir und stand auf.
Doch, es macht Spaß, mit einer Tüte frischen Backwerks, dazu ein obszönes Lied pfeifend, in das von arabisch-russischem Öl erwärmte traute Heim zurückzukehren. Man fühlt sich wie das, was man früher einmal einen Rentier nannte – bitte französisch aussprechen und nicht an dieses dämliche Tier mit dem noch dämlicheren Geweih denken. So wollte ich eigentlich immer leben: in den Tag hinein, ohne finanzielle Desaster, ein Halbdutzend unverklemmter Maiden in Reichweite, die einen schlechten Geschmack haben mussten, aber keinen schlechten Sex bevorzugten, dazu eine heile Welt voller philantropi scher Unternehmer, wahrheitsliebender Politiker plus eine Sonne, die uns für lau von ihrem Kernkraftwerk schmarotzen lässt. Und Deutschland wird alle vier Jahre Fußballweltmeister und Lena gewinnt jedes Jahr den Grand Prix, bis 2076 die Bremsen an ihrem Rollator versagen und sie sich im Orchestergraben den Hals bricht. Sicherlich alles nicht zu viel verlangt.
Die Brötchen dufteten, wenn man sie aufschnitt, der Aufschnitt (sogar das gibt es heutzutage in einer Bäckerei) schmeckte auch ohne Brötchen, wenn diese verduftet waren. Blödsinn. Ich biss herzhaft in die beiden Wurstsemmeln (nacheinander, wohlgemerkt) und liebäugelte mit dem krönenden Schokocroissant, als es an meiner Wohnungstür Sturm klingelte. Nun ja, es würde nicht Jörg Kachelmann sein, also machte ich auf.
Es kam schlimmer: Es war Borsig. »Mensch, wie das duftet! Kaffee? Und Brötchen?« Er schob seine Nase an mir vorbei in den Flur, ließ sie in die Küche bis zum Tisch
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