Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
zurück und zeigt mit spitzem Anklagefinger auf den Kleingartenverein Kleckshausen e.V., in den man nur reinkommt, wenn man den Pilotenschein hat. Die Welt ist verrückt, um nicht zu sagen crazy.
Gegen Mittag hatte sich eine Kathedrale dunkelgrauer Wolken über der Stadt aufgebaut, sehr imposant und dennoch leichte Beute für den Wind, der jetzt, nachdem alles weggeblasen war, noch einen Eimer Sonne gegen die Wände goss. Und es war diese Sonne, die mich feststellen ließ: Ich werde verfolgt. Vor den Auslagen eines Herrenausstatters war ich stehengeblieben, im Schaufenster meine eigene jämmerliche Gestalt und dahinter schemenhaft das vorbeihastende Meinesgleichen. Bis auf einen, der etwa fünf Meter von mir entfernt stand und so tat, als warte er auf jemanden, mehrmals und viel zu demonstrativ seine Uhr um die genaue Zeit bat, noch viel demonstrativer tat, als beachte er mich nicht, sich suchend umschaute, von einem Bein auf das andere trat. Schlechter Schauspieler. Er mochte etwas jünger sein als ich, so genau war das nicht zu erkennen. Ich ging langsam weiter, nein, ich schlenderte, ich simulierte die Schaufensterkrankheit, informierte mich über die neuesten Errungenschaften der Waffentechnik bei »Jagdbedarf Schröder«, eine in Deutschland handgefertigte Hirschbüchse mit Zielfernrohr war im Sonderangebot, na ja, es war wohl Schonzeit und die Geschäfte gingen schlecht.
Wieder war der Mann auf gleicher Höhe stehen geblieben, wir hatten die Fußgängerzone hinter uns gelassen, er posierte vor dem Schaufenster eines La dens für Keramik, fair gehandelte Sammeltassen und seltenes Porzellan aus drei Jahrhunderten. Mein Gott, dachte ich, jetzt ist es passiert.
Ich gebe zu, dass meine literarische Bildung sehr zu wünschen übrig lässt, meine Bildung überhaupt. Aber an die Geschichte von Edgar Poe erinnere ich mich genau, »The Man of the Crowd«, wo der Protagonist sich jemanden ausguckt, dem er folgen will, einen x-beliebigen Durchschnittsmenschen, und je länger er ihm folgt und über ihn sinniert, desto klarer wird ihm, dass dieser Mensch ein Geheimnis hat, ein vielleicht schreckliches Geheimnis, so wie wir alle unsere Geheimnisse haben, unsere ganz alltäglichen und deshalb so schrecklichen. Mir hat diese Geschichte immer gut gefallen, sie lässt sich wie beinahe alles von Poe höchst simpel oder höchst komplex interpretieren, und ein Geheimnis hatte ich sehr wohl, ein schreckliches obendrein, doch dass dieser Typ da Edgar Poe sein sollte, glaubte ich nicht, aber wer war er dann?
Eigentlich hatte ich vorgehabt, Irmi einen Besuch abzustatten, ich befand mich auch schon in der Nähe ihres kleinen Häuschens. Zuvor musste ich je doch meinen Verfolger abschütteln oder, noch besser, den Spieß umdrehen und zu seinem Verfolger werden. Wie ich das anstellen sollte, war mir im Moment nicht bekannt. Ich beschloss, ihm wie Poe die entsetzlichsten Viertel der Stadt zu zeigen, was nicht schwer war. Ich musste einfach nur beliebig durch die Straßen flanieren.
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Ein Psychiater hat mir mal die Sache mit den Zwangsneurosen erklärt (anlässlich einer Sperrmüllabfuhr, bei der ich mich für seine alte Couch interessierte). Der Reimzwang, beispielsweise. Man verspürt DURST und denkt an WURST. Oder denkt an GOTT und sieht unwillkürlich ein SCHAFOTT vor sich. Übrigens: Herr Joseph-Ignace Guillotin, Erfinder der GUILLOTINE, nannte seine erste Tochter ERNESTINE, da traf es sich gut, dass sich der Ausdruck FALLBEIL noch nicht eingebürgert hatte. Nur auf Guido reimt sich gar nichts, von LIDO einmal abgesehen.
Warum erzähle ich das jetzt? Weil mir einen Moment der Verdacht kam, unter Verfolgungswahn zu leiden. Hilfe, Herr Doktor, aber warum kann ich die Hose, die ich gerade trage, nicht abschütteln, warum folgt sie mir auf Schritt und Tritt? Nein, die Geschichte war zu ernst für billige Witzchen und Selbstbe lustigung. Meine Nerven waren angespannt, sie befan den sich in einem Zustand delikater Labilität, ich mutmaßte das Böse allüberall, streifte ziellos durch die Stadt, blieb vor Schaufenstern stehen, nutzte den immer kleiner werdenden Sonnenrest aus, um mich zu orientieren, ob dieser Mensch sich weiterhin in meinem Schatten herumdrückte. Er tat es. Dieser so auffällig unauffällige Kerl – er trug einen Wildledermantel, einen Schlapphut, aber keine Sonnenbrille, war mittelgroß, mittelschlank und nicht mittellos, ließ sich nicht abschütteln.
Geh in ein Kaufhaus, sagte ich mir, und tue folgendes: In
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