Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
dem schmuddeligen Hinterstübchen meiner Reflexionen.
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Es war um die Mittagszeit, als ich meine Wohnung für einen kleinen Gang durch die Stadt verließ. Wenn ich so vor mich hin laufe, ohne Ziel und ohne Absicht und, wie zu befürchten, auch ohne Verstand, packt mich das urdeutsche Gen des Dichtens und Denkens. Weil es aber mit dem Dichten nicht so recht hinhauen will, denke ich mehr, und soll ja das Schlechteste nicht sein, dieses »mehr denken«, hm?
Aus allen Klitschen des Mehrwerts, aus den Tempeln der Gewinnmaximierung, aus den anrüchigen Etablissements der käuflichen Arbeit strömten die Huren der Monatsgehälter, die Zuhälter des Kapitals, die Freier der freien Marktwirtschaft und steuerten Orte der billigen Verköstigung an, die Cafeteria des Kaufhofs, die Frittenhöllen der Fastfood-Religion, die Nitratkloaken der Würstchenbuden. Arme Schweine, dachte ich. Stellte mir vor, wie da so ein hungriger Lohnempfänger mit einem nachgemachten Jugendstilsofa unterm Arm zu McDonalds kommt und es gegen einen doppelten McKotz eintauschen möchte. Gibt doch Probleme, oder?
Es war Zufall, dass ich irgendwann, heillos im Gestrüpp meiner Spekulationen und Vorstellungen gefangen, vor Hermines Tür stand, aber Zufälle gibt es nicht, wie der Krimiautor weiß, die Story muss weitergehen und sei es mit Hängen und Würgen, Ächzen und Krachen. Nach mehrmaligem Klingeln empfing mich Hermine in der vielversprechendsten aller Bekleidungen, einem vorne nur notdürftig verschlossenen Morgenmantel, hinter dem nichts als blanke Haut auf sämtliche Animalitäten meiner Sinne lauerten. »Komm rein«, sagte sie, und es klang doppeldeutig genug, um sogleich an ihr vorbeizuschlüpfen, den Stoff zu streifen und einen elektrischen Schlag abzukriegen, der sich aber auch dermaßen von gewaschen hatte, dass ich – »Halt, halt!«, brummte die Schöne und schob mich wieder vor die Tür zurück. »Du gehst jetzt zuerst mal runter zum Bäcker und besorgst ein Frühstück. Bring auch was für die Kurzen mit, die pennen noch.«
Ich liebe Frühstück. Aber dreimal hintereinander? Jedenfalls blieb mir nichts anderes übrig, als mich zu trollen, um alsdann mit gefüllter Bäckertüte wieder mehrmals klingeln zu müssen und von Hermine im Immer-noch-Bademantel empfangen und dieses Mal mit freudiger Erregung eingelassen zu werden, wobei diese Erregung natürlich der Bäckertüte galt und nicht dem, der sie herbeischleppte. Aber das konnte sich durchaus noch ändern, das musste sich sogar ändern.
Ich hatte keinen Hunger, fürwahr nicht, doch aus Höflichkeitsgründen knabberte ich an einer Zimtschnecke und trank einen sehr starken Kaffee. Erzählte dabei von den letzten Abenteuern, von Honigs Geständnis und Oxanas Entdeckung, »Mönsch!« machte Hermine, »die Spacken wollen mir den Arbeitsplatz wegnehmen! Was soll eine Kassiererin bei Aldi denn machen, wenn nicht mehr mit Geld bezahlt werden soll! Und was für Formeln sind das? Irgendeine Ahnung?«
Hatte ich selbstverständlich nicht. Trug indes Oxanas Theorie vor, die mir immer mehr einleuchtete. Diese AMU wollte den internationalen Finanzmarkt crashen, globales Chaos stiften, selbst die Weltherrschaft an sich reißen, eine Diktatur errichten wie einst Pol Pot in Kambodscha. Ich redete mich in Rage und glaubte schließlich alles, was ich sagte, der Appetit kam unvermutet und umso heftiger, Hermine klopfte mir sachte auf die Finger, die gerade die zwei te Zimtschnecke abgreifen wollten, »nee, mein Lieber, die teilen sich nachher Jonas und Laura, dich brauch ich jetzt in körperlicher Hochform. Die beiden schlafen nämlich noch tief und fest, weißt, und immer wenn ich frische Brötchen mit Aufschnitt verputzt habe, regt sich bei mir was.« Sofort nahm ich mir vor, von nun an jeden Tag bei Hermine mit Frühstück zu erscheinen. Da lag der Bademantel auch schon auf dem Boden und die Natur nahm ihren Lauf. Und wieder wurde ein armes Kind um 20 Euro schändlich betrogen.
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Hermine und ich erwiesen uns als ein in jeder Hinsicht eingespieltes Team. Als die Kiddies endlich noch schlaftrunken in die Küche wankten und die dort ausgelegte Frühstückspracht als den Rest eines schönen Traumes begafften, saßen wir beiden Sünder schon wieder brav und vollständig bekleidet vor unse ren Kaffeetassen. »Hi«, grüßte Laura wortwählerisch, Jonas nickte nur, bevor er sich die Nussecke sicherte.
Wir ließen die Kinder in Ruhe essen, warfen uns, natürlich äußerst vorsichtig, verliebte
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