Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
Nahrungsmittel eigentlich in den Himmel? Nö, oder? – und meine Informationen in ihrem Kopf.
»So, so, Tauschwirtschaft. Is ja ne alte utopische Kiste, also Gemeinwohl etc., kein Eigentum, das in irgendeiner Form zu abstrakten Werten gerinnt, Geld wird, Entfremdung und so, nicht nur entfremdete Arbeit, aber auch das, Mann, da gibt’s inzwischen ganze Bibliotheken drüber, aber alles Unfug. Und wieso Formeln?« Das wusste ich auch nicht. Sie versprach, sich noch einmal in die Thematik einzulesen, sie habe ja viel Zeit, altes Eisen halt. Ich widersprach pflichtgemäß, sie deutete einen Klaps auf meine Wange an, »nee, nee, lass man, die Zeiten für Komplimente sind vorbei, mein Schatz.«
Okay, änderte ich eben die Strategie und berichtete von meinem Verfolger, was Irmi nur mit einem »war doch klar« aufnahm. »Wenn das hier wirklich ein globales Ding ist, haben die Geheimdienste Wind davon bekommen. Oder Mafia. Heute hat ja jedes Land seine eigene Mafia oder mehrere. War das ein Gelber? Dann chinesische Triaden.« Nein, weiß, männlich, Mitteleuropäer. »Pass auf«, riet mir Irmi und begann den Tisch leerzuräumen, »das ist ne andere Baustelle als die Sache mit den Mädels und den Kids im Bergwerk und Charles Dickens und so.«
Sie trug das Geschirr zur Spüle, verstaute den Abfall im Eimer, sagte »Moment«, verließ den Raum und ich wusste, was jetzt kommen würde. Das Fläschchen mit dem Eierlikör, zwei Gläser. »Warum trinkst du eigentlich dieses Zeug?«, fragte ich, ein verzweifelter Mann. Irmi lachte laut. »Nicht weil’s schmeckt. Vielleicht weil eine alte Frau sich so benehmen muss wie eine alte Frau sich eben zu benehmen hat, und ich hab mich immer anders benommen als die anderen und jetzt benehm ich mich genauso wie die anderen, aber ich weiß das und deshalb ist auch das anders. Nee, ich bin noch nicht betrunken. Trinkst einen mit? Ja doch, gell?«
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Ich brachte Irmi noch zur »Bauernschenke«, ein Spaziergang durch zarte Schneeballerinen, die im Walzertakt zu Boden tänzelten. Niemand verfolgte uns und wenn doch, dann sehr professionell. Einen Moment lang dachte ich: Das hast du dir alles nur eingebildet. Im nächsten Moment wurde mir klar, dass ich mir nur einbildete, es mir einzubilden. »Pass auf dich auf«, sagte Irmi und tätschelte meine Wange. Eine gute Mutti, die nun schleunigst zu ihrem Eierlikör musste.
Früh zu Bett. Ich ließ Massenmedien Massenmedien sein, schnappte mir ein Buch als Einschlafhilfe. Es war ein gähnend langweiliges Traktat über die Orientierungslosigkeit des modernen Menschen, aber es erfüllte seinen Zweck: Ich gähnte auch. Streckte mich noch einmal, löschte das Licht – und wurde hellwach. Jedes Geräusch, das Nacht und Dunkelheit fabrizierten, wurde zur Quelle unendlicher Gefahr. Ich wusste, dass die Dachbalken fleißig arbeiteten, besonders nachts, wenn man sie hörte, aber konnte da oben nicht auch jemand herumschleichen? Nur: Wozu sollte er das tun? Und warum jemand versuchen, mir unauffällig zu folgen, um dann sehr auffällig über mir auf dem Speicher nächtens herum zu trampeln? Solche Überlegungen plagten mich. Kein vernünftiger Mensch kann dabei einschlafen.
Ich erwachte, weil das Telefon klingelte. Es war noch nicht einmal Mitternacht, mein »Ja?« klang verschlafen und gereizt. Die Stimme am anderen Ende nahm es nicht zur Kenntnis, sie klang hellwach und panisch. »Sonja ist weg!«, sagte Oxana. Und da mir dazu nichts einfiel, fuhr sie fort: »Als wir vorhin von der Lesung gekommen sind, war sie nicht mehr da. Ihre Sachen weg, sie weg. Marxer sitzt deprimiert in seinem Arbeitszimmer und denkt vor sich hin.«
Ich versprach, zu Sonjas Wohnung zu gehen, ja, sofort natürlich, ich war schon aufgestanden und fahndete nach meiner Hose. »Und wenn sie nicht dort ist?« Oxanas Frage war beinahe rhetorisch. Wir gingen beide davon aus, dass die Wohnung leer sein würde, wenigstens menschenleer. »Werden wir dann sehen«, sagte ich und fragte mich, was wir dann sehen würden. Sie müsse auflegen, sagte Oxana, Marxer rumpele heran, Gewitterwolken um sich herum, so etwas spüre sie schon von weitem. »Wenigs tens hat er sie nicht mehr unter seiner Kontrolle. Auch ein Gutes.« Dem stimmte ich zu und wir verabschiedeten uns.
Die »Bauernschenke« lag friedlich und dunkel, gegenüber die Webersche Wohnung ebenso. Der Schneefall hatte zugenommen, aus den graziösen Ballerinen waren dickleibige Kerle geworden, die schnell und ohne eine Spur von Rhythmus
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