Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
eine Tasse dünnsten Kaffees, der auch Tee sein konnte, jedenfalls schon bei der Reichung durch Käthe, das Zimmermädchen, kalt. Borsig sah auf die Spitzen seiner perfekt gewichsten Stiefel, zwischen denen sich etwas bewegte, das schließlich als eine besonders fette Kakerlake identifiziert wurde. Drauftreten, befahl das frustrierte Kleinhirn. Nö, weigerte sich ein Rest stolzen Proletariertums. Ich bin hier zwar der Lakai, der Befehlsempfänger, aber meine Selbstachtung nehmt ihr mir nicht. Die Kakerlake reckte den Daumen hoch, verzog sich dennoch vorsichtshalber hinter ein Tischbein.
Gegen zwanzig nach Zehn schlug die Klingel an. Penetrantes Geräusch, dachte Borsig und erhob sich seufzend. Stoff zurechtzupfen, Mütze geraderücken. Auf dem Flur wartete Johann, stiff upper lippigst, fußspitzenwippend. „Das gnädige Fräulein wünscht in die Stadt gefahren zu werden.“ So, so, in die Stadt. Shoppen, ne? Borsig nickte und verfügte sich Richtung Garage, dort warteten drei Karossen, ein Jaguar, ein Benz und ein Renault Clio, falls irgendwann in Deutschland einmal die Revolution ausbräche und es nicht mehr opportun wäre, in Protzkisten durch die Gegend zu gondeln. Kurz: Der Clio war eine völlig überflüssige Investition.
Da tauchte auch schon das Fräulein Katharina Bruggink auf, rotznasenmäßig in langem Leder über den engen Jeans, Bauerntrampelstiefeln. Sie sah instinktiv an der Domestikenvisage vorbei, hin zum Benz. Borsig kapierte sofort und angelte nach dem Schlüssel im Jackeninnentäschchen. Das Fräulein postierte sich an der hinteren linken Tür, der Chauffeur sprang hinzu und öffnete den Verschlag. Neckisch die Mütze lüpfend und „dumme kleine Schlampe“ denkend.
„Dumme kleine Schlampe“, dachte Regitz. Und war überrascht, noch denken zu können. Seit Tagen trichterten sie ihm hier Wissen ein. Was ist ein Hedgefonds, was bedeutet „haircut“ finanztechnisch? Wie viel Reibach lässt sich machen, wenn aus dem Triple-A der Ratingagenturen ein Double-A oder gar noch weniger wird? Warum ist es begrüßenswert, wenn in Griechenland die Menschen randalieren, die Isländer kollektiv für die Bankenmafia blechen sollen? Welche Auswirkungen haben die Bilder verreckender afrikanischer Kinder auf den Euro-Dollar-Wechselkurs und wie lässt sich das steuern? Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Grad der atomaren Verseuchung des Pazifik, dem Rohstoffpreis für Raps, dem Spermaverbrauch subalterner Beamter bei Gratispuffbesuchen und dem Dummschwätz von Politikerfressen in öffentlich-rechtlichen Talkshows?
Sein Kopf rauchte und kein Aufdruck warnte, dies sei gesundheitsschädlich und in Gaststätten zu unterlassen. Und jetzt das noch. Dumme. Kleine. Schlampe. Die beiden Jungs hatten Moritz Klein in den Raum gestoßen, Regitz war gehörig erschrocken. Was suchte der hier? Woher wusste der....? Anja, fiel ihm ein. Dummekleineschlampeanja. Und dieses Arschloch grinste ihn an. Sagte: „Grüß Gott, mein lieber Regitz, endlich treffen wir uns mal wieder.“ Regitz schnäuzte sich auf die ordinärste nur denkbare, also die Regitzart. Musterte Klein, zischte: „Grüß Gott? Wenn es einen gibt, wirst du das gleich selber tun. Das steht schon mal fest, ne?“
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Ein peinliches Geheimnis wird endlich gelüftet
Marxer hatte schon immer mit größter Lust an Türen gelauscht, besonders an solchen, die nach außen aufgingen. Steigerte das Risiko, fügte dem Element des Entdecktwerdens das des physischen Schmerzes hinzu, war also purer Sex. Natürlich frönte er als Kriminalschriftsteller auch dem Voyeurismus. Die Nachbarin damals, immer nackig Situps auf der Terrasse vollführend, oh la la, sie ahnte ja nicht (oder doch?), was sie dem 14jährigen Marxer damit bescherte. Der Ecouterismus indes erschien ihm reizvoller, gerade jetzt, da er sein linkes Ohr (das rechte war infolge Rockmusikmissbrauchs ein wenig verdorben) an das kühle Holz der Gästezimmertür drückte (ging leider nach innen auf), hinter der sich Oxana und Sonja flüsternd austauschten.
Oder gar mehr taten? Erotische Handgreiflichkeiten? Das Produzieren diverser Flüssigkeiten? Ekstatische Ringkämpfe nasser Zungen? Das Stimulieren von G-Punkten und anderen dunklen Mythen der Lust? Hörte sich so an. Müsste man jetzt sehen. Nein, das war es eben: Durfte man nicht sehen, musste man sich vorstellen, um es hernach in Worte zu gießen. Wozu war man Krimiautor und impotent, eine Kombination übrigens, die gar nicht so selten
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