Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
Oder Oxana verfügte über Kräfte, die selbst Totalbetrunkene sofort wieder in den Zustand der Ernüchterung versetzen konnten.
„Hast du etwa gepennt?“ fragte sie scheinheilig. „Nein, natürlich nicht. Ich sitz hier rum und warte auf die Apokalypse.“ „Super“, lobte die Kasachin, „die kommt auch bald. Also nicht die Apokalypse, aber Vika. Hat mich gerade angerufen. Kannst sie vom Bahnhof abholen und bei dir unterbringen? Bei uns vor der Villa stehen zwei Typen.“ „Tu mir einen Gefallen und füttere sie nicht mit Spekulatius und Glühwein“, bat ich. Oxana lachte. „Keine Sorge, Marxer würde mich killen. Also in einer Stunde am Bahnhof, TGV aus Paris. Und macht keine Sauereien.“
Erst als ich unter der Dusche stand, dämmerte mir, dass meine Vorfreude auf Vika von der räumlichen Nähe Hermines empfindlich getrübt wurde. Oder anders: Ich hatte Schiss, dass Hermine meinen Seitensprung mit Vika... nein, noch anders: Ich hatte schlicht ein schlechtes Gewissen und Schiss und eigentlich wollte ich und eigentlich wollte ich nicht und eigentlich erinnerte ich mich gerne an die Nacht mit Vika und eigentlich... sollte ich endlich das Hirn abschalten und mich abtrocknen. Es wurde Zeit, zum Bahnhof zu marschieren.
352
Dissident. Hallo? Er war ein Dissident! Er stand unter Hausarrest! Wie die Tussie in Birma oder Myanmar, wie das jetzt hieß. Konnte es für einen Autor etwas Besseres geben? Schwerlich. Marxer stand auf, ging zum Fenster, schaute hinaus, alles in Dunkelgrau, sogar die Klamotten der beiden Typen, die auf dem Bürgersteig auf und ab gingen, gelegentlich Blicke zum Haus hin schickten. Ob man zu einer spontanen Demo via Facebook aufrufen sollte? Er hatte ja diesen Fakeaccount, „Dirk Nebel“, den er manchmal einsetzte, um sich selbst als Konstantin Marxer zu loben. Dirk Nebel schrieb auch all die euphorischen Amazon-Leserkritiken mit den fünf Sternen und kommentierte in sämtlichen Krimiblogs des Landes zugunsten seines Schöpfers. Oder doch warten, bis sich die Empörung des kritischen Bürgers auf natürliche Weise Luft verschaffen würde? Bis sich die ersten vor der Villa zusammenrotten und Kerzen entzünden würden?
Er schlurfte in die Küche, ein plötzlich alter Mann, gebeugt, grübelnd, voller Düsternis. Oxana rührte Kuchenteig, mein Gott, sie war zum Kuchenbacken völlig untalentiert. Sie trug einen engen roten Rock, schwarze Strumpfhose, keine Schuhe. Er hasste diese Frau. Er nahm sich vor, ihr bei Gelegenheit unter diesen Rock zu greifen, wohlwissend, dass er es niemals tun würde. Er sagte „Ui, gibt’s Kuchen?“ – und seine Stimme klang dermaßen verlogen, dass sich Oxana umdrehte und ihn wie einen Delinquenten musterte. „Ja, aber nicht für dich, du magst den ja nicht. Ich erwarte Besuch. Vika.“
Vika. Schön. Marxer schlurfte zurück in sein Arbeitszimmer, wieder ans Fenster, hatte sich nichts verändert. Doch, erste Schneeflocken, die Avantgarde des weißen Heeres, das sogleich über sie herfallen würde. Hinsetzen. Wieder aufstehen. Warum war er so nervös? Abermals in die Küche, wo Oxana noch immer mit dem Rühren des Teigs beschäftigt war, mit der Hand natürlich, als sei der Marxersche Haushalt nicht mit den fortschrittlichsten Hilfsmitteln für die moderne Hausfrau ausgerüstet. „Und wann kommt diese Vika?“ „Erst mal gar nicht“, antwortete Oxana, ohne sich umzudrehen. „Moritz holt sie nachher vom Bahnhof ab, die taucht zunächst bei ihm unter.“
Rührkuchen, dachte Marxer. Sie macht wieder einen Rührkuchen. Marmorkuchen. Angeblich ein kasachisches Originalrezept. Wer's glaubt. Wenn doch: Kein Wunder, dass diese Kasachen nix auf die Reihe kriegen. „Ach so“, sagte er und verließ die Küche wieder. Stand auf dem Flur und hielt die Luft an. Ein Geräusch von der Hintertür, durch die es in den leider sehr verwilderten Garten ging. Einbrecher?
Ich bin ein Dissident, erinnerte sich Marxer, daran muss ich mich gewöhnen. An heimliche Besucher oder finstere Typen in Ledermänteln, die mich nachts um zwei aus dem Bett holen und „zum Verhör“ mitnehmen. Folter inklusive, aber hoffentlich nicht mit Oxanas Marmorkuchen, ha, ha. Jetzt klackte die Tür. Vorsichtige Schritte waren zu hören und ein Schnaufen.
Verdammt, dachte Marxer, da bin ich nun Krimiautor und hab nicht mal ne Knarre zur Hand. Er schlich sich auf leisesten Sohlen zurück in sein Arbeitszimmer. Der Brieföffner. Damit hatte er mal in „Die Leisetreter von Bad
Weitere Kostenlose Bücher