Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
überschaubar machen, Lösungen und Trost anbieten. Nur dann kannst du Bücher verkaufen. Diese Geschichte hier hatte entschieden zu viele Nebenschauplätze, nichts ging auf, sie war halt das Leben, sie hielt sich nicht an Dramaturgien, sie verachtete Plots, sie scherte sich einen Dreck um die Ratschläge, die in Büchern ausgebreitet wurden, „Wie schreibe ich einen Krimi?“, „Was ist Krimi?“, „Warum fällt mein Blumentopf um, wenn ich mit dem Fuß dran trete?“ Schreiben heißt: Missbrauch der Wirklichkeit, Unzucht mit Abhängigen, wobei nicht klar schien, wer hier von wem abhängig war. Das Leben vom Autor oder der Autor vom Leben. Egal. An die Arbeit, Marxer!
Man musste ihn nicht erzählen, dass der bequemste Weg zum Krimi der war, von hinten nach vorne zu schreiben. Wie sollte die Geschichte enden? Natürlich gut. Vorhang zu, keine Fragen mehr offen, das wünschte sich die Leserschaft. Am Anfang ist ein Typ namens Georg Weber verschwunden, am Ende muss er wieder auftauchen, quicklebendig oder mausetot, als Opfer oder Täter. Das also war die Generalfrage, die beantwortet werden musste. Marxer entschied sich, Georg Weber sei ein Täter, der zum Opfer geworden war (oder umgekehrt) und am Ende zunächst quicklebendig und dann mausetot. So erreichte man sämtliche Zielgruppen.
Und der Held? Natürlich nicht dieser Moritz Klein, der eignete sich dazu einfach nicht. Ein Schriftsteller musste es sein, Krimiautor halt. Und diese Sonja? Hübsche Frau, es würde sexuell knistern müssen. Und durfte nicht gut enden, es sei denn, man wollte eine Serie draus machen. Klar wollte Marxer. Krimis verkauften sich am besten in Serie, alte Regel, das hatte schon Arthur Conan Doyle gewusst und war seines Sherlock Holmes eines Tages überdrüssig geworden, hatte ihn bei Reichenbach in der Schweiz den Wasserfall runtergeschickt, um ihn Jahre später furztrocken wieder an Land zu ziehen, damit er einem englischen Hund das Handwerk legte. Aber nein: Die Geschichte mit Klein und Sonja Weber brauchte ein tragisches Ende, für die Leserinnen nämlich, die nah am Wasser (nicht dem der Reichenbachfälle!) gebaut hatten.
Ok. Und jetzt zum roten Faden. Den brauchte man genauso wie die roten Heringe, die falschen Spuren, die gelegt werden mussten. Was also war der rote Faden? Eine Staats-, eine Weltverschwörung? Zu kompliziert. Etwas Privates. Die Verschwörungsgeschichte wäre der Hering... Marxer stöhnte. Tat er immer, wenn er sein Gehirn mit einem netten Stürmchen frisch lüftete. Er lauschte. Oxana war in der Küche und hantierte mit Töpfen und Pfannen, es roch nach Fleisch und Gemüse. Marxer trat abermals ans Fenster. Zwei Typen, die sich einen abfroren. Die gerne am Abendbrottisch im Warmen sitzen, Oxanas Kochkünste genießen würden. Haha, dumm gelaufen, Jungs! Sofort ging es Marxer wieder besser.
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Irmi hatte in jüngeren Jahren „Die Dialektik der Aufklärung“ von Adorno und Horkheimer gelesen und die Erkenntnis daraus gezogen, dass das Streben nach Erkenntnis häufig Irrationales und Nichtwissen produzierte. Auf einer alltäglichen Ebene war sie zu dem Schluss gekommen, dass jeder Umstand des Lebens sogleich seinen Antipoden zeugte, das Gute also das Böse, die Erkenntnis die Nichterkenntnis, die Aufklärung die Verschleierung und so weiter. Das mochte nicht im Sinne der Autoren und ihrer Interpreten sein, war aber, verdammt, genau das, was Irmi fürs Leben gelernt hatte.
Und, noch einmal verdammt, es bestätigte sich immer und immer wieder. Irmi fühlte sich stark, sie fühlte sich jung. Gleichzeitig fühlte sie sich schwach und alt. Sie hatte die „Bauernschenke“ alleine verlassen, wollte die Lage vor ihrer Wohnung sondieren, Mohamed und Mirjam, die Illegalen und Papierlosen, waren aus Vorsichtserwägungen in der Wirtschaft verblieben, wo es diskrete Räume gab, sie nötigenfalls zu verstecken.
Ja, es war kalt, der Himmel zwar blau, aber das würde nicht lange halten. Etwas Wind, der immer stärker wurde. Menschen mit hochgeklappten Mantelkragen kamen einem entgegen, Dampfwirbel vor den Gesichtern, Hüte in den Stirnen. Alles Geheimagenten, irgendwie. Und Irmi? Sie lief wie ein junges Reh und fühlte sich wie ein wundgeschossenes Tier, das sich zu seinem Bau schleppte, um dort unspektakulär zu sterben. Wie hatte sie das Vorgehen der Rentnerinnen und Rentner bewundert, die die Fesseln der Zwangsruhigstellung in den Altersheimen abgestreift hatten, aufgeblüht waren. Wie lange würde das
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