Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
unter seinem intellektuellen Niveau siedelte – geschenkt. Damit hatte Bernie leben gelernt. Es gab genügend privaten Ausgleich, den geistreichen Austausch von tiefen Gedanken mit Freunden bei einem kultivierten Glas Wein, „Das philosophische Quartett“ im ZDF oder ein interessantes Buch – Bernie freute sich schon mächtig auf Dieter Paul Rudolphs für das Frühjahr angekündigten neuen Krimi „Der Bote“, dessen Untertitel „Ein Science-Fiction-Krimi aus der guten alten Zeit“ sehr ansprechend klang und jene geistige Atzung für die nach einer solchen heischenden Killerseele versprach, deren Inhaber jobmäßig an einen Flachspacken wie Jonny gekettet war. Diesen Jonny, der wenigstens seine Arbeit ordentlich erledigte, aber nun eben nicht, denn die Klinke blieb ungedrückt. Bernie wandte ärgerlich den Kopf.
Und blickte auf Jonnys Kopf. An dessen rechte Schläfe etwas aus Metall gedrückt wurde. Ein Revolverlauf. Jonny schwitzte fürchterlich, das war nicht zu übersehen, Bernie begann ebenfalls zu schwitzen, das war ihm nicht zu verdenken. Er schwenkte seine Augäpfel am Lauf des Revolvers entlang, bis er das Gesicht eines Mannes erblickte. Ein feistes, brutales Gesicht, aus dem es hämisch grinste.
Hm. Tja. Dumm gelaufen. Arschkarte gezogen. Bernie erinnerte sich wehmütig – aber natürlich zu spät – an die vor wenigen Monaten angebotene Fortbildungsveranstaltung „Was tun, wenn die Kacke am Dampfen ist?“, die er und Jonny natürlich nicht besucht hatten. Vielleicht hatte man dort gute Ratschläge parat gehabt, wie sich in Situationen wie der aktuellen zu verhalten war. Ruhig bleiben, selbst hämisch grinsen, flüstern: „Dreh dich nicht um, Arschloch, hinter dir steht einer von uns und murkst dich gleich ab“ – und dann dreht sich Arschloch natürlich nach der imaginären Bedrohung um und zack, schon haut man ihm die Knarre aus der dummen Hand und alles ist wieder gut.
Dieser Typ sah nicht so aus, als fiele er auf derlei Spielchen herein. Ein Profi wie man selber, leider gerade in der besseren Ausgangssituation. Schon ein wenig älter, aber das bedeutete auch: mehr Erfahrung. Er machte eine flüchtige Bewegung mit den Augen und Bernie wusste genau, was die bedeutete: Steck das Messer ein, Junge, und dann gehen wir ganz langsam hier raus. Und zwar auf Zehenspitzen, wie wir auch hier reingekommen sind. Gibt ne Blasenentzündung, aber scheiß drauf. Vielleicht hast du Glück und erlebst gar nicht mehr, wie sie ausbricht.
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Vika führte eine Reihe von Telefongesprächen und verkündete schließlich, sie habe einen Wagen organisiert, er stehe am Rande der Fußgängerzone für uns bereit, „Zündschlüssel steckt, aufgetankt ist auch.“ Ich war beeindruckt, die Detektivin erwies sich als gut vernetzt, sogar ganz ohne Facebook. Sie hatte die richtigen Freunde und musste nicht ständig auf einen „Gefällt mir"-Daumen klicken.
Die Waffe in meiner Jackentasche machte mich nervös. Würde ich sie notfalls benutzen? Auf einen Menschen zielen, abdrücken, ihn töten? Notwehr, aber das sagt sich so leicht. Dass wir in einer Welt des Fressens und Gefressenwerdens leben, kein Mitleid haben dürfen, schneller sein müssen als die anderen, die uns Böses wollen – auch das sagt sich leicht. Ich beschloss, das Thema zu verdrängen, was zur Folge hatte, dass ich an nichts anderes dachte, als wir durch den langsam sich erhellenden Morgen schritten, auf ungeräumten weißen Trottoirs, mit knirschendem Schnee unter den Sohlen, an längst von spritzendem Schneematsch heimgesuchten Straßen entlang. Schweigsam, in uns gekehrt, Szenarien dessen im Kopf, was uns in der Landkommune Antonio Gramsci erwarten würde. Ein brutaler Showdown wie im Western.
Wir strebten unserem Ziel nicht auf direktem Wege zu. Vika erteilte mir eine kostenlose Lektion in professioneller Detektivarbeit, wie erkenne ich Verfolger und wie schüttele ich sie ab, stand auf dem Stundenplan. Wir liefen kreuz und quer durch die Altstadt, ergötzten uns an Schaufensterinhalten, Vika wandte bisweilen den Kopf auf sehr natürliche Art in alle Richtungen, bewunderte Hausfassaden, wies nach oben, nach unten, nach links, nach rechts. Wir waren harmlose Flaneure, Shopper, Betrachter. Endlich sagte sie: „So. Niemand ist hinter uns her“ und fünf Minuten später standen wir vor einem cremefarbenen Golf. Der Schlüssel steckte wie versprochen.
Wenn ich geglaubt hatte, Vika würde das Auto stadtauswärts lenken, sah ich mich
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