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Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)

Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)

Titel: Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Paul Rudolph
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annahm und zurückblinzelte. „Nun, ich meine, was sind Krimis? Das ist doch nur – Blödsinn. Der wirkliche Krimi ist immer der, der nicht geschrieben wird, verstehen Sie?“ Verstand kein Mensch, aber alle hörten gebannt zu oder taten so. Bis auf die Roche, die sich jetzt im Schritt zu kratzen begann und hoffte, irgendein Kameramann würde es sehen und sofort seinen Apparat draufhalten. „Was ist denn das Kriminelle an so einem Bundespräsidenten, he?“ Marxer erhitzte sich, seine Rede wurde flüssiger. „Das Kriminelle ist doch nicht der Bundespräsident, das Kriminelle ist doch die Gesellschaft, die sich so einen Grüßaugust leistet, der ihr einmal in fünf Jahren die Leviten liest und ein Nullsätzchen hinterlässt, einen Ruck durch Deutschland oder den Islam in Deutschland und dann tritt er ab und kassiert 200.000 Affen – wissen Sie eigentlich, wie ich mir für 200.000 die Hände blutig tippen muss, wissen Sie das eigentlich? Das sind ein paar Millionen Sätze und dann kommt so eine Tussie wie die da“ – er zeigte auf die Roche, die sich noch immer im Schritt kratzte und immer noch Geißler zublinzelte, Geißler, der seinen Blick indigniert abgewandt hatte und auf den gestärkten weißen Blusenkragen der Hamm-Brücher starrte, aber lieber in Stuttgart bei einer Montagsdemo gewesen wäre.
    Marxer fuhr unbeeindruckt fort: „Hören Sie mir doch auf mit diesem Scheiß! Wir schreiben Krimis, damit wir einen Ort für die Verbrechen haben, die wir im wahren Leben nicht gebrauchen können! Die größten Verbrechen sind immer die, die nicht ans Tageslicht kommen oder was meinen Sie denn, warum ich hier sitze? Weil ich etwas zum Thema zu sagen hätte? Nein, weil man mich gekauft hat! Weil ich von einem Verbrechen weiß, das aber nicht ans Tageslicht kommen darf! Und der hier“ – jetzt zeigte er auf den kalkweißen Kriesling-Schönefärb – „der hier soll mal das Maul aufmachen, das ist auch so einer, den haben sie auch gekauft und der sitzt jetzt auch nur da rum und glotzt Ihnen auf die Titten, Frau Illner, und wenn sie nicht gleich aufhören, sich die Muschi zu stimulieren, Frau Roche, dann geb ich Ihnen meine Zimmernummer und dann sehen wir uns nach der Sendung!“
    Oh ja, kein Zweifel, dachte der Mann, ich muss besoffen sein. Aber auch so was von total besoffen, ich fasse es nicht. Alles schwieg im Raum, ja, es schien ihm, als schwiege der Raum selbst, was aber nicht möglich war, denn Räume können nicht reden. Auch im Fernsehen schwiegen sie, was unerhört war, denn noch nie war im Fernsehen so geschwiegen worden. Ein historischer Moment. Die Roche mit einem Koitus Interruptus. Maybrit Illner hilflos von einer Kamera zu nächsten schauend. Heiner Geißler in den gestärkten Blusenkragen der Hamm-Brücher versunken. Die Hamm-Brücher sinnierend, was Theodor Heuss und eine gerubbelte braune Cordhose gemeinsam haben konnten. Kriesling-Schönefärb noch immer kalkweiß. „Will jemand noch ein Bier?“ fragte Hermine in die Stille hinein.
     
     
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    Der Moment war historisch. So wie damals, als Nina Hagen sich in dieser österreichischen Talkshow selbstbefriedigte, als Romy Schneider mit einem Ex-Bankräuber flirtete oder dieser Schauspieler irgendjemandem ein Glas Wasser ins Gesicht schüttete. Hätte sie diesem farblosen Typen gar nicht zugetraut, aber so konnte man sich irren. Hinter der Maske des Spießers lauert der Abgrund, gewissermaßen, und das Beste: Er hatte sie namentlich erwähnt! Sie rückte noch näher an ihn, registrierte befriedigt, dass ihr die Kamera folgte. Wie eine übernatürliche Erscheinung, eine göttliche Leuchtreklame blinzelte ihr der Titel des neuen Romans aus den Tiefen der Imagination entgegen: „Mast(urabations)hähnchen“.
    Was hatte er da gesagt? Oder noch wichtiger: Warum hatte er das gesagt, an das er sich schon im Moment, da er es aussprach, nicht mehr erinnern konnte? Und warum schwiegen jetzt alle seit gefühlten fünf Stunden oder fünf Sekunden, egal, jedenfalls wertvolle Sendezeit, in Talkshows durfte nicht geschwiegen werden, war doch klar. Und wer würde das Schweigen brechen? Die Illner? War eigentlich ihr Job. Aber ihr hatte es die Sprache verschlagen. Heiner Geißler sah ihn unverwandt an, dachte wohl: Der Typ braucht dringend einen Moderator, okay, ich machs. Frau Hamm-Brücher war froh, dass ihr Geißler nicht mehr auf den gestärkten Blusenkragen starrte, das hatte ja schon etwas von sexueller Belästigung gehabt. Die Roche? Sah ihn auch an.

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