Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
Rückte immer näher. Hatte er sie wirklich zum Beischlaf aufgefordert? Okay, passierte der wohl öfter, die soll sich mal nicht so haben. Außerdem törnt kackbrauner Cord ab. Und Kriesling-Schönefärb? Der sagte natürlich... falsch. Der räusperte sich und begann zu sprechen, zunächst etwas unsicher, dann immer sicherer, flüssig, besonnen.
„Ich denke, dass Herr Marxer folgendes zum Ausdruck bringen wollte: Wir leben in einer Zeit, in der ein Krimi zuvörderst ein Krimiverhinderungskrimi ist. Ein verzweifelter Versuch, uns Normalität vorzugaukeln, während wir von allen Seiten betrogen und benutzt werden. Glauben Sie wirklich, Herr Wulff habe zurücktreten müssen, weil seine Nähe zur Wirtschaft zu unappetitlich war? Herr Wulff ist ein Bauernopfer. Ein schlechter Krimi, damit man die wirklich guten verhindern kann. Ablenkungsmanöver, Eskapismus, Flucht in die offene, die wohlfeile Empörung. Gut, ich gestehe: Der Mann tut mir nicht leid. Aber wir beide, Herr Marxer und ich, wir könnten andere Dinge erzählen. Wir könnten erzählen, wie wir gekauft worden sind, wie auch andere gekauft worden sind, damit sie den Krimi, in dem sie bis zum Halse stecken, vergessen.“
Jetzt endlich hatte auch Maybrit Illner wieder ihre Sprache gefunden. „Aber Sie sind doch, Sie waren doch der Pressesprecher des ehemaligen Bundespräsidenten? Sie arbeiten weiterhin im Bundespräsidialamt?“ Kriesling-Schönefärb winkte lässig ab. „Vergessen Sie das. Ich bin mit Beförderung bestraft worden.“ „Das stimmt“, bestätigte Marxer mit krächzender Stimme. „Und ich damit, hier in der Talkshow sitzen zu dürfen. Aber wir beide haben die Schnauze voll.“
Wow, dachte die Roche, das riecht nach einer guten Story. Okay, sie brauchte nicht unbedingt eine gute Story für ihren nächsten Roman, ein guter Titel würde es auch tun. „Mast(urbations)hähnchen“ klang vielleicht doch etwas zu intellektuell, mit der Klammer mitten im Wort konnten vielleicht Germanisten etwas anfangen, aber die lasen ihre Bücher ja nur, um sie zu verreißen. „Ficktiales“? Zu billig. Außerdem würde in ihrem neuen Roman nicht gefickt werden. „Ficktief“ ging also auch nicht. „Literanei“? Kein Sexbezug, nichts Gynäkologisches.
Es wurde wieder geschwiegen, fünf Sekunden, zehn Sekunden. Das ist die erste Sendung, in der geschwiegen wird, wenn ich anwesend bin, dachte Heiner Geißler und sah hinüber zur Hamm-Brücher, die ähnliches denken mochte. Glücklicherweise hatte Frau Illner eine Idee. Sie drückte auf ein Touchpad und sagte: „Dazu haben wir einen Einspieler.“
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„Vier, fünf, sechs, mein Schäferhund heißt Rex.“ Wie war er jetzt auf diesen Spruch gekommen? Egal. Abschütteln, wegpacken, Hände waschen, wieder raus. Seltsamer Abend. Plötzlich war das Testbild erschienen. Ja, das Testbild! Er hatte gar nicht gewusst, dass es überhaupt noch ein Testbild gab im Fernsehen, davon gehört hatte er wohl, von seinen Eltern oder Großeltern, keine Ahnung mehr. Ein Testbild! Dann eine Schrifttafel. „Wegen einer technischen Störung ist die Sendung gerade technisch gestört.“ Dazu dezente Musik, Fahrstuhlgedudel. Schließlich, drei Minuten später, eine Stimme aus dem Off. „Wegen einer technischen Störung kann die Talkshow von Maybrit Illner nicht weiter übertragen werden. Bis zum Beginn der nächsten Sendung unterhalten wir sie mit Impressionen einer Zugfahrt von Ravensburg bis Osterrode.“ Und schon war eine alte Dampflokomotive in einen Tunnel eingefahren.
„Zensur!“ schrie es unisono und auch der Mann stellte überrascht fest, dass er verärgert war. Endlich einmal spannendes Fernsehen und dann so was. Die bleiche Frau – sah nicht schlecht aus, war aber nicht sein Fall – stöhnte auf, aber das hatte sie schon getan, als dieser Typ aus dem Bundespräsidialamt zu besprechen begonnen hatte. Die neben ihr, wohl Russin, ihrem Akzent nach, tätschelte ihr tröstend den Hinterkopf. Und dieser Bundesbeauftragte sagte die ganze Zeit „tja“. Neben ihm eine Frau, die ihn „Chef“ nannte und die bei der wirren Rede des Krimiautors Marxer ständig „cooler Typ“ ausgerufen hatte, was alle Anwesenden höchst überraschte, denn wo war dieser Typ cool, der war doch geradezu das Musterbeispiel von Uncoolness.
Während die Dampflokomotiven über den Bildschirm fuhren, diskutierte man in der „Bauernschenke“ hitzig über den denkwürdigen Auftritt der beiden Genossen. „Marxer war total
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