Die Edwin-Drood-Verschwörung (German Edition)
Iwanowitsch Bodyrin, Gott hab ihn selig, war beim KGB. Ihr kennt den KGB? Geheimdienst. Kein großes Tier, mein Papuschka, ein kleiner Bürokrat. Aber er hat mir etwas vererbt – leider das einzige -, ein gewisses Talent zur Spionage nämlich. Bis kurz vor halb zwei hat sich Marxer in seinem Arbeitszimmer verschanzt und geschrieben. Wie immer mit Füllfederhalter auf Büttenpapier, er hat eine gestochen schöne Schrift und ich vermute mal, jeder mit gestochen schöner Schrift hält das für die wichtigste Voraussetzung zum Schriftstellerberuf. Wenn Marxer die Tinte nicht mehr halten kann, das merk ich sofort. Er stolpert durchs Haus, schlägt die Türen brutal zu, stolpert über das Tigerfell in seinem Schlafzimmer als wäre schon Silvester und murmelt an einem Stück „Hochliteratur, Hochliteratur“ vor sich hin. Wenn er mit dem Schreiben fertig ist, wird er wieder ganz der Alte, sprich ein dümmlich schwätzender geiler Bock. Er ist sofort zu Sonja, ich also ins Arbeitszimmer. Was er geschrieben hat, lag natürlich eingesperrt in einer Schublade des Schreibtisches. Marxer glaubt, es gebe dazu nur einen Schlüssel – den er übrigens an einer Goldkette um seine Lenden mit sich führt. Ich aber weiß, dass es zwei Schlüssel gibt, hab ich mir doch eine Kopie anfertigen lassen. Das meine ich mit meinem ererbten Talent.“
Sie kramte in ihrer überdimensionierten Handtasche – mindestens Gucci, wenn nicht gar von jungen Pariser Chansonsängerinnen handgenäht – und brachte einen Umschlag zum Vorschein, aus dem sie ein paar Seiten Papier zog. „Schnell kopiert“, grinste Oxana und Laura grinste ein verstärkendes „heiß“ hinterher. „Holla“, sagte Borsig und rückte seinen Stuhl näher an den der Kasachin, um wenigstens in den Genuss ihres Parfüms zu kommen. Hermine sagte nur: „Aber zuerst isst du deine Torte auf, Schätzchen, an dir is ja nix dran.“ Was die Fehlinterpretation eines perfekten Körpers schlechthin war.
Oxana räusperte sich, wandte sich zu mir und sah mir tief in die Augen. Ich wich ihrem Blick schamhaft aus, Hermine registrierte es mit einer Mischung aus Genugtuung und Misstrauen. „Er hat drei Seiten geschrieben. Die erste ist praktisch die Konzeption des Romans, den er aus unseren Abenteuern zu verzapfen gedenkt. Er trägt den Arbeitstitel – nicht erschrecken – „Im Tal der plaudernden Osterhasen“. Die beiden restlichen enthalten eine Art Gedächtnisprotokoll von Marxers Gesprächen mit Sonja. Soll ich vorlesen? Aber ich warne euch: Das ist harter Stoff.“
Wir nickten unisono und lehnten uns zurück, Hermine schloss die Augen wie bei einer Dichterlesung. Und Oxana begann.
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Arbeitstitel: Im Tal der plaudernden Osterhasen. Genre: Krimi für Abiturienten mit Resthumor. Subgenre: Idiotenroman mit viel Action und sozialkritischer Performance. Protagonist: ein grenzdebiler beziehungsweise imbeziler Nichtleistungsträger namens Kevin Kleinlich.
„ Ich bring ihn um“, hörte ich mich murmeln. Hermine und Oxana legten mir gleichzeitig beruhigend eine Hand an den Hinterkopf und machten „buh buh, nicht aufregen“. „Kommt noch schlimmer“, warnte Oxana, „du musst jetzt stark sein.“ Sie las weiter.
Der Roman schildert die mehr oder weniger freiwilligen Abenteuer des bereits in Schulzeiten zum Versagen neigenden Helden, der aus einer Bierlaune seiner dubiosen Kumpane heraus für einige Minuten zum Privatdetektiv wird. Die schöne und geheimnisvolle Mireille Rosenkranz beauftragt ihn, ihren verschwundenen Bruder Laslo zu finden. Kleinlich, nicht nur ein notorischer Lügner, sondern auch über die Maßen geldgeil, nimmt den Auftrag an. Im Gefolge des sogenannten Detektivs versammelt sich schnell ein buntes Völkchen: die dralle Susanne, Verkäuferin bei Lidl und begeisterte Trägerin erotischer Korsagen, ihr kleinkrimineller Sohn Janosch mitsamt seiner infantilen Freundin Lara sowie der linksradikale Hilfsarbeiter Birsock, genannt „Prolomarx“.
„ Ich bring ihn um“, hörte ich Hermine, Jonas, Laura und Borsig murmeln. „Nicht aufregen, Kinder“, beruhigte ich, „wer seine Heldin Mireille Rosenkranz nennt, hat beim katholischen Publikum schon verschissen.“ Oxana nickte. „Kann ich weiterlesen? Ist nicht mehr viel auf dem ersten Blatt.“
Die Story spielt in der Jetztzeit. Um das Zielpublikum – beeinflussbare Menschen zwischen 19 und 99, möglichst mit Abitur und zum Gutmenschentum neigend – zuverlässig zu erreichen, wird der Text um einen
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