Die Ehre der Am'churi (German Edition)
tut. Sondern die Macht zur Vernichtung, die du in ihm spürst. Die Sturmflut, die entfesselt werden könnte. Er nutzt diese Macht nicht, fürchtet sie selbst, dennoch ist sie da. Woher diese Macht rührt, kann ich dir nicht sagen, Jivvin. Tatsache ist: Wir Am’churi, die wir stark genug sind, gegen ihn standzuhalten, fürchten und hassen ihn. Wir hassen, was er werden könnte, und das lockt tatsächlich die finstersten Seiten in uns heraus, weckt das Böse, unsere eigene Fähigkeit zu grausamer, gnadenloser Zerstörung. Jeder gewöhnliche Mensch fürchtet ihn und wird versuchen, vor ihm zu fliehen. Er ist kein böser Mensch, er ist einfach nur zu mächtig.“
Nachdenklich lehnte Jivvin sich zurück.
„Kann man diesen Hass überwinden, Meister?“
„Heute Nacht hast du es getan, mein Junge. Du hast deinen Hass wie auch deine Angst überwunden und nicht die tödliche Macht in Ni’yo gesehen, sondern den Mensch, der er ist. Ein einsames, gequältes Kind, das dringend Hilfe brauchte, und sei es von seinem schlimmsten Feind.“
„Und morgen? Wenn er keine Hilfe mehr braucht, was wird dann sein?“
„Das entscheidest du, Jivvin. Wenn ich dir einen Rat geben darf: Hasse ihn weiter. Er wird dich zurückweisen, wenn du ihm freundlich gegenüber trittst. Ni’yo erlaubt keine Nähe, von niemandem. Er fürchtet uns alle, misstraut uns. Ni’yo ist kein normaler Am’churi und wird es wohl niemals werden.“
Verzweifelt schüttelte Jivvin den Kopf.
„Meister, gibt es keinen anderen Weg? Muss ich mich denn sehnen, einen Jungen zu töten, nur, weil er mächtiger ist als ich? Ihr seid doch auch mächtiger, viel, viel mächtiger als ich, aber Euch würde ich niemals hassen!“
„Meine Macht ist soviel geringer als Ni’yos. Sie ist nicht vernichtend, obwohl sie es selbstverständlich sein könnte. Suche nicht das leidende Kind in ihm! Hasse ihn, bekämpfe ihn! Du selbst bist überreich gesegnet mit Talenten. Du bist der einzige Mensch, der genug Kraft in sich besitzt, um es allein mit Ni’yo aufnehmen zu können. Noch bist du nicht fertig ausgebildet, doch in wenigen Jahren schon wirst du mich überflügelt haben, und jeden Großmeister dieses Tempels dazu. Auch Ni’yo wird wachsen. Schon bald werden Pérenn und Kamur ihn nicht mehr überlisten können, und sieben Adepten zugleich brauchen nicht zu hoffen, ihn überwinden zu können. Du allein kannst dies schaffen, und es ist dein Schicksal, es zu versuchen. Wachse an ihm. Lerne von ihm. Bis du stark genug geworden bist, ihn zu besiegen.“
„Es ist meine Aufgabe, ihn zu töten?“, wisperte Jivvin.
„Nein. Es soll dein Ziel sein, ihn ehrenhaft zu besiegen. Wenn er einfach nur sterben müsste, dann wäre er schon lange tot. Ihn im Schlaf abzuschlachten wäre leicht. Ihn mit Gift umzubringen ebenso. Aber das ist nicht der Weg der Am’churi. Du bist Weg der Ehre schon weit fortgeschritten. Wahre diese Ehre, sie allein unterscheidet dich vom gewissenlosen Mörder. Zweifle nicht, es gibt einen Sinn für Ni’yos Leiden. Du kannst an ihm zu einem Krieger heranwachsen, der du sonst niemals werden würdest.“
„Meister …“ Jivvin rang um Worte, doch er musste einfach aussprechen, was er dachte!
„Meister, warum wird Ni’yo so allein gelassen? Warum wird er nicht menschlich behandelt, beschützt? Getröstet, wenn er leidet, versorgt, wenn er Schmerzen hat und verletzt ist? Warum musste er dort allein liegen und einem grausamen Tod entgegensehen?“
„Er wäre nicht gestorben, Jivvin. Ich habe dich geweckt, damit du es verhinderst, und wenn du es nicht getan hättest, wäre ich selbst eingeschritten.“
„Und die anderen acht Mal? Warum wurde er zurückgewiesen, als er Hilfe suchte? Wird er dadurch nicht erst zu dem Monster gemacht, das Ihr fürchtet? Schürt das nicht Hass auf alle Menschen in ihm? Warum zeigt man ihm nicht, wie er seine Macht kontrollieren muss, damit er niemals zur vernichtenden Sturmflut wird?“
„Es gibt Gründe dafür.“ Leruam legte ihm die Hände auf die Schultern, sein Blick war so ernst und eindringlich, dass Jivvin erschauderte.
„Ni’yo lässt sich nicht helfen. Es ist nicht mein Wunsch, ihn so herzlos zu misshandeln, ihn allein zu lassen in seinem Schmerz, sich ihm, wenn überhaupt, dann nur aus Mitleid zuzuwenden und dann sofort wieder zu fliehen. Glaube mir, es ist mir nicht gleichgültig. Wie gerne würde ich ihn beschützen, jeden niederschlagen, der ihm wehtun will. Aber das würde ihm nicht helfen, sondern nur
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