Die Ehre der Am'churi (German Edition)
Ni’yos Schwertarm zu treffen. Damit hätte er seinen Gegner entwaffnen können und ihm vermutlich noch den Unterarm gebrochen. Doch Ni’yo hatte es irgendwie geschafft, sich rechtzeitig zu ducken, dabei fast Jivvins Schenkel mit seinem Chi’a aufzuschlitzen und gelassen in die Grundstellung zurückzukehren, bis sein Gegner wieder bereit war. Niemand sonst als diese beiden verstand es, die gekrümmte Klinge zu führen, als wäre sie tatsächlich eine Verlängerung ihres Armes, die Kralle eines Drachenkriegers.
Der Großmeister versank in Gedanken. Offensichtlich war Jivvin bei seinem letzten Ausflug gereift, obwohl er kaum einen Monat fort gewesen war. Seine Technik hatte sich immens verfeinert, er war stärker und schneller denn je. Nur ausgebildete Am’churi durften den Tempel verlassen, wenn sicher war, dass ihre Gabe – oder der Fluch – zur Wandlung nicht unkontrolliert durchbrechen würde. Es waren nicht die normalen Menschen, die es zu fürchten galt. Die größte Gefahr ging von den Schattenelfen aus. Sie selbst nannten sich die Kinder des Kalesh. Spitzohrige, grausame Wesen, listig und stark waren sie, die Erzfeinde der Am’churi, und so schön sie anzusehen waren, so gefährlich konnten sie sein. Man traf sie selten allein an, wenn sie ihre Städte tief in den Wäldern und Gebirgen Arus verließen. Was sie antrieb, woran sie glaubten, welche Ziele sie verfolgten, wussten nur sie selbst. Trafen Am’churi und Kalesh aufeinander, folgte jedoch unausweichlich der Kampf. Jivvin war nur mit knapper Not entkommen, als er ihnen auf einer Handelsstraße in die Arme lief. In letzter Zeit waren die Elfen recht unruhig, sie überfielen Handelszüge, Bauern und harmlose Reisende. Vor allem aber versuchten sie Am’churi lebendig zu fangen und zu verschleppen.
Jivvin kämpfte seit dieser Begegnung konzentrierter und verließ sich nicht nur auf seine Stärken. Der Krieger näherte sich seinem dritten Lebensjahrzehnt, war damit noch zu jung, um zum Großmeister erhoben zu werden, obwohl er sie schon lange in sämtlichen Bereichen überflügelt hatte.
Auch Ni’yo hatte sich weiter entwickelt, und die Bestie in sich besänftigt. Es gab kaum noch jemanden im Tempel, der ihn wirklich hasste, aber viele fürchteten ihn. Für die Novizen war er eine Schreckensgestalt, beinahe eine wandelnde Legende der Finsternis. Es kam vor, dass die Jüngsten anfingen zu weinen, wenn er sie ansah, obwohl Ni’yo ihnen niemals etwas antun würde. Er hielt sich weiterhin von allen fern. Schon seit vielen Jahren aß er nicht mehr mit der Gemeinschaft, sondern holte sich seine Mahlzeiten in der Küche ab, um sie im Stillen, fern von allen anderen, einzunehmen. Wenn es viele Neuankömmlinge im Tempel gab, verzichtete er oft genug auch darauf, verließ manchmal über Wochen sein Zimmer nur nachts. Leruam hatte gezögert, ihn aus dem Tempel gehen zu lassen. Es war der Gott selbst gewesen, der schließlich verlangt hatte, den Jungen nicht länger einzusperren. Man konnte Ni’yo nicht mit Aufgaben betrauen, die Am’churs Willen dienten, es sei denn, es ging um gewaltsame Einschüchterung von Kriegsparteien, die gar keinen Wunsch zu Frieden verspürten – manchmal wurden Am’churi bezahlt, um Krieg abzuwenden oder sich einer der Parteien anzuschließen.
Der junge Mann war ein düsterer, schweigsamer Krieger geworden, der gehorchte, wann immer es von ihm verlangt war, ohne sich von Bitternis zermürben zu lassen. Dass er es geschafft hatte, bis zum heutigen Tag zu überleben und dabei sein inneres Gleichgewicht zu bewahren, trotz all der Feindseligkeit, die ihm begegnete, war sicherlich der größte Beweis seiner immensen Kraft.
Das Duell wurde mittlerweile auf dem Dach des Novizenhauses geführt, was meist bedeutete, dass es bald zu einem Ende finden würde. Dort oben mussten die beiden Kämpfer auf einem schmalen First balancieren und sie taktierten lange zwischen den einzelnen Schlagabtauschen. Nach über drei Stunden waren beide am Ende ihrer Kraft, und auch viele Zuschauer hatten sich mittlerweile wieder ihren eigenen Arbeiten und Trainingsübungen zugewandt.
„Unser Publikum ermüdet“, sagte Ni’yo finster lächelnd, während er sich unter einem harten Vorstoß hinweg duckte und sich dabei auf dem linken Fuß drehte, um Jivvins nachgesetztem Fausthieb zu entgehen. Er nutzte seinen Schwung, um eine mörderische Attacke auf den Hals seines Gegners zu zielen, was Jivvin beinahe vom Dach gefegt hätte.
„Nur unser
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