Die Ehre der Am'churi (German Edition)
Schaden verursachen, der nicht mehr gut zu machen ist. Ni’yo hat zu lernen, dass er ganz allein auf der Welt ist. Er ist stärker als jeder andere Mensch, aber er braucht jeden Funken seiner immensen Kraft, um überleben zu können. Am’chur riet mir dazu, den Jungen allein zu lassen, wie er es selbst wünscht. Ihn dazu anzutreiben, aus eigener Kraft zu überleben, und so wird es gehandhabt.“
Langsam stand er auf.
„Ruhe dich aus, Jivvin. Der Morgen ist schon sehr nah. Wenn du Fragen oder Zweifel hast, komm zu mir, oder wende dich an Am’chur selbst. Möglicherweise kann der Gott dir besser erklären, wofür ich keine Worte finde.“
„Meister?“, fragte Jivvin, als Leruam die Tür erreicht hatte.
„Ni’yo sagte, er stehe in meiner Schuld. Was soll ich dafür fordern?“
Der Großmeister lächelte sanft. „Nichts, Jivvin. Der Tag wird kommen, an dem du Ni’yos Hilfe brauchen kannst, hebe dir deine Forderung dafür auf. Gewiss könntest du ihn demütigen, ihn zwingen, im Kampf gegen dich zu verlieren, aber damit würdest du nichts gewinnen, oder? Nein, warte ab, bis sich eine Gelegenheit ergibt. Eine solche Schuld darf nicht verschwendet werden.“
Jivvin nickte stumm, zu erschöpft und verwirrt, um noch antworten zu können. Sein Kopf schwirrte von Zweifeln und Fragen, von zu vielen Dingen, die er nicht verstand. Vielleicht war es besser, sich der Führung seines Meisters zu überlassen … wenn es offensichtlich richtig war, Ni’yo zu hassen und töten zu wollen, wie er es seit Jahren tat, dann gab es keinen Grund, sich dagegen zu wehren. Oder doch?
Ob ich wirklich eines Tages so gut werden kann wie er? Am’chur, das wäre unglaublich! Aber vielleicht sollte ich etwas bescheidener wünschen. Wenn ich genauso gut bin wie er, wird man mich vielleicht genauso sehr hassen wie ihn, und das würde ich nicht ertragen. Ah, es würde reichen, ihn ehrenhaft besiegen zu können, selbst, wenn er eigentlich viel geschickter und schneller ist! Ich werde mich noch viel mehr anstrengen, härter kämpfen, länger üben. Ich werde dich nicht enttäuschen, Am’chur!
Zögernd trank er den Becher leer, es kam ihm falsch vor, das Wasser zu verschwenden, auch wenn es nur als erklärendes Beispiel gedient hatte.
Ist es möglich, dass sich alle irren?
Tief in ihm beharrte eine leise Stimme darauf, dass Leruams Erklärungen einfach nicht stimmig sein konnten. Wie konnte es das Beste für einen Menschen sein, ihn möglichst grausam zu misshandeln? Was für ein Unsinn!
Du weißt nicht alles. Leruam sagte doch, dass Am’chur selbst es gut heißt, was hier geschieht. Auch wenn die Großmeister sich irren – ein Gott ganz gewiss nicht! Nein, alles hat seine Richtigkeit, ob es dir gefällt oder nicht. Nimm es hin, gehorche. Hasse die kleine Ratte für das, was sie ist!
Mit diesem Gedanken legte er sich auf sein Bett, überzeugt, kein Auge zutun zu können; doch er schlief ein, kaum dass sein Kopf das Kissen berührte.
Zwölf Jahre später …
3.
Die Waffen klirrten. Schlag folgte auf Schlag, schneller, als das ungeschulte Auge folgen konnte. Die zwei jungen Meister der Am’churi standen einander im Ehrenduell gegenüber, wie schon so oft in den vergangenen Jahren. Doch obwohl es nicht weiter ungewöhnlich war, dass Ni’yo und Jivvin einander zu töten versuchten, lockte es jedes Mal sämtliche Bewohner des Tempels an. Niemand zweifelte am Ausgang des Kampfes; in dieser Hinsicht gab es keinerlei Spannung. Ni’yo war und blieb schneller und gewandter als sein Feind, schien selbst dann noch jeden Schlag zu ahnen, wenn Jivvin drei oder vier Attacken im Voraus plante. Doch zu sehen, mit welcher Eleganz sich diese beiden Krieger im tödlichen Tanz umkreisten, mit welcher vollendeten Technik sie atemberaubende Paraden wirkten, Attacken schlugen, ihre Körper Dinge vollbrachten, die jenseits menschlicher Möglichkeiten zu liegen schienen, das war ein sinnlicher Genuss für die Zuschauer. Dazu ein lehrreicher: Die Großmeister erlaubten ihren Schülern zuzuschauen, und erklärten ihnen dabei die Schrittfolgen – Warnungen mit eingeschlossen.
„Dass mir ja niemand von euch versucht, die Deckung offen zu lassen, bis er fast den Kopf abgeschlagen bekommt!“, betonte Leruam eindringlich, in der Hoffnung, dass die staunenden Novizen gar nicht sehen konnten, was Jivvin da gerade gewagt hatte. Eine gute Technik. Beinahe wäre es ihm gelungen, mit seiner darauf folgenden Drehung und blitzartigem Tritt
Weitere Kostenlose Bücher