Die Ehre der Am'churi (German Edition)
sonst waren sie beide verloren.
„Nun, wenn du das so siehst, kannst du den Passus mit der Freude über deine Niederlage auslassen. Aber ein wenig Dankbarkeit wäre angebracht, meinst du nicht?“
„Bist du sicher? Du lässt mich doch immer leben.“
„Du solltest dich nicht zu sehr darauf verlassen. Wenn du noch länger wartest, fall ich in Ohnmacht und dein Kopf kommt ohne dich mit mir“, presste Ni’yo hervor.
„Gut. Danke, dass du mich leben lässt“, brummte Jivvin und atmete auf, als die Klinge von seinem Nacken genommen wurde. Immerhin, einen kleinen Sieg hatte er dennoch errungen! Ruckartig zog er seine Waffe aus dem Arm seines Feindes, verzichtete –mühsam beherrscht – darauf, Ni’yo dabei noch schlimmere Verletzungen zuzufügen.
„Du hast es schmutzig gemacht“, sagte er vorwurfsvoll, hielt es von sich, als würde er sich ekeln.
„Verzeih mir. Das nächste Mal nehme ich Rücksicht auf dein empfindsames Gemüt.“ Mit diesen Worten sprang der jüngere Am’churi vom Dach, landete sicher und ging scheinbar entspannt zurück zum Haus der Meister. Nur, wer ihn gut kannte, sah, wie steif er sich im Vergleich zu sonst bewegte.
Jivvin sprang ebenfalls in die Tiefe. Es war ein guter Kampf gewesen: Noch nie zuvor war es ihm gelungen, Ni’yo etwas abzutrotzen. Trotz alledem fraß der Hass an ihm. Wieder eine Niederlage.
Eines Tages machst du den entscheidenden Fehler! Und dann bin ich dich los!
„Warum hast du verloren?“ Die Stimme des alten Großmeisters war sanft, ohne Kritik oder Vorwürfe. Jivvin hatte ihn nicht herankommen hören, doch das war er von Leruam gewohnt.
„Er ist nach wie vor besser als ich, Meister.“
„Das wird er auch immer bleiben. Du kannst ihn nicht durch Waffengeschick bezwingen, nur durch Willensstärke. Also, warum hast du verloren?“
Jivvin nickte langsam. „Weil er bereit ist, zur Not seinen Arm zu opfern, um zu gewinnen und ich nicht.“
„Für Ni’yo steht das Leben auf dem Spiel, jedes Mal, wenn ihr zwei euch duelliert. Für dich nur dein Stolz. Vergiss das nicht. Wenn du nicht kämpfst, als ginge es auch um dein Leben, wenn du nicht bereit bist, alles zu opfern, wirst du diesen Krieg nicht für dich entscheiden.“
Mit diesen Worten wandte Leruam sich um und ging mit raschen, jugendlich federnden Schritten davon.
Eine Weile lang blickte Jivvin ihm nach, dann betrat er das Haus.
Er irrt sich, dachte er. Für Ni’yo steht nicht das Leben auf dem Spiel, er spielt selbst mit seinem Leben und genießt es. Er sucht den Kampf mit mir, weil er dann endlich spielen darf, und er gewinnt, um weiter spielen zu können. Wenn er eines Tages die Lust an diesem Spiel verliert, wird er sein Leben wegwerfen und es nicht bedauern.
Er reinigte seine Klinge, untersuchte sie penibel auf Scharten und Beschädigungen nach dem langen Kampf. Erst, als sie vollkommen gepflegt war, ging er, um sich selbst zu waschen.
Und was suche ich? Wirklich nur den Sieg? Nichts weiter als das?
So sehr er auch nachdachte, er fand keine Antwort.
5.
Es war Mittagszeit. Nahezu alle Bewohner des Tempels befanden sich jetzt im Speisesaal oder ruhten sich ein wenig von der sengenden Hitze des Spätsommertages aus. Ni’yo freute sich über die Gelegenheit, den Schatten des Osthofs für seine Bogenschießübungen zu nutzen. In etwa dreißig Schritt Entfernung hatte er drei Metallringe an nachgiebigen Hopfenranken befestigt, die hier an der Außenmauer wucherten. Mit einem geschickt platzierten Pfeil sorgte er dafür, dass die Ranken in Bewegung versetzt wurden, ohne dass er auch nur einen einzigen Zweig beschädigte. Den Bogen gespannt musste er warten, bis sich alle drei Ringe auf einer Höhe befanden und sie mit einem einzelnen Pfeil gleichzeitig treffen. Die Bewegungen des Hopfens waren schwer zu berechnen, zumal immer wieder ein leichter Wind aufkam und sein Ziel zunichte machte. Oft genug geschah es, dass die Ringe auch nach Stunden nicht für einen Moment lang die gleiche Höhe erreichten. Heute hatte Ni’yo schon viermal mit einem Pfeil die Ranken zum Wippen gebracht, aber noch nicht einmal auf die Ringe schießen können. Insgesamt war es eher eine meditative Übung der Geduld und Ausdauer als der Zielfertigkeit, aber er liebte dieses Spiel dennoch. Wenn die Schultern bereits schmerzten, die Finger längst taub waren, die Arme zu zittern begannen vor Überanstrengung, die Augen tränten und man ganz plötzlich spürte, dass der Moment gekommen war, sich noch einmal
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