Die Ehre der Am'churi (German Edition)
sammelte und der Pfeil sich löste, und tatsächlich alle drei Ringe durchschlug – das war jedes Mal aufs Neue ein solcher Triumph, der alle Mühen und Warterei belohnte!
Es klopfte.
Verwundert schrak Ni’yo aus seiner Versenkung, brauchte einen langen Moment, um zu verstehen, dass jemand vor dem Haupttor stand. Seufzend schlang er sich den Bogen über die Schulter und ging hinüber. Es geschah so selten, dass jemand zu ihnen kam, dass sich keine Torwache lohnte. Besucher mussten warten, bis ihr Klopfen gehört worden war.
„Wer begehrt Einlass im Tempel des Am’chur?“, sprach Ni‘yo die traditionellen Worte.
„Wir sind Reisende und suchen Erfrischung, außerdem wollen wir Geleitschutz für den weiteren Weg erbitten.“
Die Legende besagte, dass Am’churs Statue über dem Tor glühende Lava auf die Köpfe jener regnen ließ, die bei ihrer Antwort logen. Niemand wusste, ob dies tatsächlich schon einmal geschehen war. Jedes Jahr nahmen sich einige Novizen vor, nachts vor das Tor zu schleichen und absichtlich zu lügen, wenn sie von ihren Kameraden wieder eingelassen wurden. Sobald sie dann draußen vor dem Tor standen und in das weit aufgerissene Maul der Gottesstatue blickten, verließ sie allerdings jedes Mal der Mut.
Ni’yo entriegelte das Tor und zog es auf, drehte sich dabei so, dass die Fremden ihn von der Seite erblickten. Er wollte nicht mit ihnen reden, wenn es sich vermeiden ließ, zu tief war die Angst verwurzelt, auf Ablehnung zu treffen, sobald er sich mit anderen Menschen einließ.
„Bitte, tretet ein und seid willkommen. Nur einen Augenblick, ich rufe den Tempelvorsteher“, sagte er, verneigte sich tief und eilte dann davon. Er hörte dabei dem Gespräch der Reisenden zu, so lange sie noch in Hörweite waren, sich aber bereits für unbelauscht hielten. Leruam kam ihm entgegen; wie stets wusste der Großmeister alles, was im Tempel geschah. Die Zeit schien spurlos an diesem Mann vorüberzugehen. Zwar wurde sein Gesicht jedes Jahr ein wenig runzliger, wie eine Rosine, die beständig weiter verschrumpelte, je trockener sie wurde. Doch ansonsten war er unverändert der gleiche Mann, der Ni’yo vor fast zwei Jahrzehnten aufgenommen hatte.
Er nickte dem jungen Krieger zu und blieb kurz stehen.
„Eine Reisegruppe, Meister. Sie wollen Geleitschutz. Nach allem, was ich gehört habe, warten noch einige mehr in der Nähe, vermutlich mit Waren.“
„Gut, Ni’yo. Schick doch bitte Jivvin her, ich denke, er wird sie gerne begleiten.“ Damit ging Leruam weiter und vertiefte sich rasch in ein Gespräch mit den Männern. Ni’yo betrachtete die acht Fremden aus dem Schutz, den der Schatten in der Nähe der Mauer bot. Es waren Händler, vermutlich aus den reichen Tälern des Rukay-Gebirges, so, wie sie gekleidet waren und sprachen.
Irgendetwas an ihnen gefiel Ni’yo nicht. Er wusste nicht, was es war, aber er vertraute diesem Instinkt. Langsam machte er sich auf dem Weg zum Haupthaus, um Jivvin zu suchen, dabei dachte er intensiv über die Fremden nach. Was war es nur, was ihn störte?
„Sehnsucht?“, fragte Jivvin spöttisch, als Ni’yo sich vor ihm aufbaute. Er hatte gerade den Speisesaal verlassen wollen. Der letzte Kampf war knapp drei Wochen her. Die schwere Armverletzung des jüngeren Kriegers war noch nicht völlig verheilt, was ihn aber nicht davon abhielt, sich zu belasten.
„Wohl kaum. Du sollst zum Haupttor kommen, eine Händlergruppe bittet um Geleitschutz.“
„Gut.“ Jivvin verharrte kurz, musterte ihn von oben bis unten.
„Was?“, knurrte Ni’yo, sah gereizt an sich herab. „Ich bin verschwitzt, ich weiß.“
„Wann hast du das letzte Mal gegessen?“, fragte Jivvin ungerührt.
„Bist du meine Amma? Was weiß ich, gestern Morgen wahrscheinlich.“
„Sieht man. Mach nur weiter so, dann gewinne ich den nächsten Kampf im Schlaf.“ Er grinste höhnisch, wollte dann gehen.
„Warte.“ Ni’yo rang einen Moment mit sich, dann entschloss er sich, seine Zweifel auszusprechen.
Jivvin blickte ihn über die Schulter an, lauerte offenbar, ob Ni’yo beleidigt genug war, um ihn sofort zum Kampf zu fordern.
„An diesen Händlern ist etwas merkwürdig. Ich kann es nicht genauer sagen, halte die Augen offen.“
„Bist du jetzt meine Amma?“ Jivvin rollte die Augen, schnaubte verächtlich und verschwand ohne weiteres Wort.
Ni’yo zuckte die Schultern. Er hatte ihn gewarnt.
Jetzt, wo er schon einmal hier war, könnte er tatsächlich etwas essen. Es roch nach
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