Die Ehre der Am'churi (German Edition)
hätten.“
„Aber warum nur? Zu welchem Zweck?“
Diese Frage hing eine Weile lang zwischen ihnen, während sie beide stumm vor sich hinbrüteten.
„Einer sagte zu mir, dass man uns wohl mit Absicht unwissend gehalten hat“, sagte Jivvin. „Das kann ja nur bedeuten, dass dieses Wissen, warum das alles geschieht, wichtig ist.“
„Lass uns weitergehen“, seufzte Ni’yo. Wenn er noch länger auf dem kalten Boden saß, würde er sich gar nicht mehr bewegen können. Auch so fiel es ihm schon schwer genug, noch wach zu bleiben. Die Kalesh verfolgten sie zudem sicherlich. Sie konnten sich nicht voneinander befreien, und Antworten würden sie hier auch nicht finden.
An den verlangsamten, steifen Bewegungen seines Feindes war ersichtlich, dass auch Jivvin Schwierigkeiten hatte, gewiss hatte man auch ihn ausgepeitscht. Ni’yo wusste nicht, wie schwer, aber vermutlich hart genug, um einen Am’churi an die Grenzen zu treiben.
Eine Weile lang liefen sie nebeneinander her. Ni’yos Welt bestand längst nur noch aus rot glühenden, vernichtenden Schmerzwellen, die in regelmäßigen Abständen sein Bewusstsein überrollten, das sich von seinem Körper getrennt hatte. Seine Beine bewegten sich ohne sein Zutun, er würde laufen, bis er tot zu Boden fiel – eher das, als vor Jivvin zuzugeben, dass er am Ende seiner Kraft war. Wozu dem Feind auch noch die Gelegenheit geben, ohne Furcht angreifen zu können?
Jivvin hörte an Ni’yos schweren, unregelmäßigen Atemzügen, dass sich der Zustand seines unfreiwilligen Schicksalsgefährten zunehmend verschlechterte. Auch er litt unter den Schmerzen der Folter, dem Betäubungsgift, das viel zu lange in seinem Körper gewütet hatte. Den langen Stunden, die er unter der Decke gehangen hatte, den Anstrengungen der Flucht und nicht zuletzt an Hunger und unerträglichem Durst. Ihm war klar, dass Ni’yo eher stillschweigend sterben würde, bevor er eine Rast verlangte. Es lag an ihm, dem Rangniedrigeren, so etwas zu erbitten. Alles in ihm wehrte sich gegen eine solche Selbstdemütigung, aber es war sinnlos, dass sie sich hier mit ihrem Stolz beide umbrachten.
Er sah etwas aus den Augenwinkeln glitzern, und steuerte ohne zu zögern darauf zu.
„Hey!“, ächzte Ni’yo, der dem Richtungswechsel nicht gefolgt war. Die Kette spannte sich, schmerzhaft riss die Eisenschelle an Jivvins Hand.
„Pass doch auf!“, brummte er, zerrte den strauchelnden Krieger hinter sich her. „Da vorne ist Wasser, ich hab Durst.“ Er überwand sich innerlich, ballte die Fäuste und presste schließlich hervor: „Und danach sollten wir vielleicht ein oder zwei Stunden schlafen.“
Der erwartete Spott blieb aus. Ni’yo knurrte etwas, das nach Zustimmung klang. Jivvin wusste nicht, ob er deswegen besorgt oder zufrieden sein sollte. Der Durst gewann.
Das Glitzern entpuppte sich als kleiner Tümpel, in dem sich Mondlicht spiegelte. Das Ufer war abschüssig und durch glatte, moosbewachsene Steine schwer zugänglich. Nur an einer Stelle war es flach genug, dass ein Mann niederknien und trinken konnte – der jeweils andere musste dieser Bewegung folgen, ohne selbst an das Wasser gelangen zu können. Die beiden Krieger verharrten unschlüssig, keiner war sich sicher, ob er den Anfang machen sollte.
„Du zuerst“, zischte Ni’yo schließlich gereizt. „Du hast ihn gefunden.“
Langsam ließ sich Jivvin auf die Knie nieder, beobachtete seinen Feind dabei unablässig. Wenn er sich jetzt zum Wasser hinab beugte, wäre das eine einmalige Gelegenheit für Ni’yo zuzuschlagen …
„Mach schon! Mir steht nicht der Sinn nach Kämpfen!“ Ni’yo riss sich den Waffengürtel herunter und warf ihn auf Jivvins Seite.
„Du könntest mir in den Nacken schlagen.“
„Mit der Linken? Während ich halb im Teich hänge, meine Rechte an dich gefesselt? Ja, vielleicht, aber bevor ich dich treffen könnte, hättest du mir die Kehle eingerammt, nicht wahr? Nun trink, bevor wir Moos ansetzen!“
Wenig überzeugt beugte sich Jivvin schließlich in die Tiefe und schöpfte Wasser. Es tat gut, das klare, eisige Nass belebte seinen Körper. Der Tümpel musste einen unterirdischen Zulauf haben, das Wasser war frisch. Kurz entschlossen zog er sich das Hemd über den Kopf. Wirklich waschen konnte er sich in dieser Haltung nicht, und in der Dunkelheit wollte er nicht in den Teich hinein steigen, der vielleicht scharfkantige Steine am Grund liegen hatte. Aber wenigstens ein, zwei Handvoll Wasser über den
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