Die Ehre der Am'churi (German Edition)
beschämen konnte. Er spürte, in welch großen Schwierigkeiten der junge Krieger tatsächlich stecken musste.
„Kry!“ Als wäre es ebene Erde statt nur eines handbreiten Holzstücks, mehr als zwei Schritt über dem Boden, stießen sie sich ab, überschlugen sich in der Luft und erreichten auf diese Weise den Mauerwehrgang, gerade als die ersten Verfolger in den Hof gerannt kamen. Ni’yo strauchelte, beinahe wäre er gestürzt und hätte Jivvin mit sich in die Tiefe gerissen. Zum Glück hatte der ältere Am’churi jede Bewegung seines Feindes beobachtet, auf der Hut vor genau solchen Unfällen, und stützte ihn rasch ab.
Pfeile zischten um ihre Köpfe, als sie auf der anderen Seite des Tores hinab sprangen und lautlos in der Dunkelheit verschwanden.
13.
Mit jedem Schritt, der sie tiefer in den Wald hineinführte, wuchs die Anspannung zwischen ihnen. Ni’yo war sich nur zu sehr bewusst, welche Gefahr diese Situation wirklich bedeutete. Entweder sie arbeiteten zusammen, und das für viele Tage und Nächte, bis sie etwaige Verfolger abgeschüttelt und ein Dorf mit einem fähigen Schmied gefunden hatten, der ihre Fessel zerstören konnte. Oder aber sie würden sich bekämpfen, und der Überlebende – sofern es einen gab – befreite sich gewaltsam von seinem Feind. In den letzten Jahren hatte ihr glühender Hass sich soweit abgekühlt, dass sie auf verständige, beinahe gelassene Art miteinander umgehen konnten. Jeder kannte seinen Platz: Ni’yo war der Ranghöhere, der bessere Kämpfer, Jivvin sein Rivale. Im Augenblick waren alle Regeln aufgehoben. Keine Tempelgesetze, die sie schützten. Nur das Recht des Stärkeren, mit allen Mitteln zu überleben.
Jivvin schien mit seinen Überlegungen am gleichen Punkt angelangt zu sein, denn er blieb unvermittelt stehen.
„Lass uns versuchen, ob diese Kette wirklich unzerbrechlich ist“, schlug er vor.
Froh über die Gelegenheit, seinen unendlich müden, gepeinigten Körper ausruhen zu lassen, stimmte Ni’yo zu und setzte sich neben seinen Feind auf den Boden. Gemeinsam studierten sie in dem schwachen Licht des Mondes zuerst die Schlösser, konnten jedoch die Funktionsweise der Metallstifte nicht enträtseln. Jivvin zog schließlich seinen erbeuteten Dolch und wies auf Ni’yos Hand. „Darf ich? Bei mir selbst werde ich es nicht schaffen“, sagte er. Ni’yo betrachtete ihn misstrauisch – es war keine kluge Idee, seine Waffenhand an den Todfeind auszuliefern, wenn dieser einen Dolch hielt und nichts weiter zu tun brauchte, als sich mit einem kurzen Gewaltakt zu befreien…
„Ich schwöre bei Am’chur, ich will nur das Schloss knacken. Wenn es dich beruhigt, zieh dein Messer und räche dich für jeden Kratzer, den ich in dich ritze“, knurrte Jivvin ungeduldig.
Immer noch zögernd ergriff Ni’yo eine der Klingen mit der Linken und bot dann seine gefesselte Hand dar. Gewiss, es war nicht anzunehmen, dass Jivvin zustach. Er konnte nicht wissen, wie verletzt sein sonst so schneller Feind wirklich war. Oder doch? Sofort versuchte Ni’yo, sich noch aufrechter zu halten, ruhig und entspannt zu wirken und all seine Sinne auf Jivvin zu richten.
Lange Momente verstrichen, in denen nur metallisches Klirren und gelegentliche Flüche des älteren Kriegers zu hören waren, der in dem Schloss stocherte. Mehrmals rutschte er ab, fügte Ni’yo dabei oberflächliche Schnitte zu, was jedes Mal höchste Anspannung bei beiden zur Folge hatte.
„Ich gebe auf“, murrte Jivvin schließlich. „Vielleicht komme ich bei Tageslicht weiter, aber ich glaube, dieses Schloss ist wirklich nicht zu knacken. Willst du es bei mir versuchen?“
„Nein.“ Ni’yo schüttelte den Kopf. Er kühlte langsam aus, diese Herbstnacht war feucht und alles andere als angenehm, auch wenn es zum Glück noch nicht fror. „Ich kann mit der Linken schreiben und kämpfen, aber nicht malen. Also sollte ich darauf verzichten, an einem Kunstwerk der Mechanik herumzupfuschen, oder?“
Sie maßen einander mit misstrauischen Blicken, bis sie schließlich gleichzeitig ihre Waffen einsteckten.
Ni’yo hob die Kette ins Mondlicht. Sie war ungewöhnlich schwer, jeder einzelne Gliederring mindestens drei Fingerbreit dick. Es war überflüssig, einen Versuch zu starten sie zu zerbrechen.
„Was für eine Kette, damit könnte man Am’chur selbst noch binden“, murmelte er.
„Stell dir vor, sie hätten ihr Werk vollendet und uns drei davon angelegt, bevor sie uns aufeinander gehetzt
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