Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Ehre der Am'churi (German Edition)

Die Ehre der Am'churi (German Edition)

Titel: Die Ehre der Am'churi (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sandra Gernt
Vom Netzwerk:
freihändig ein schwieriger Kraftakt war.
    „Wo sind wir?“, murmelte Ni’yo verblüfft. Bis jetzt hatte er sich einigermaßen ausgekannt, aber im Moment konnte er nicht einmal bestimmen, in welcher Himmelsrichtung sie liefen, da sich die Sonne hinter dichten Wolken verbarg.
    „In der Nähe von Peloromes Nadel “, erwiderte Jivvin keuchend.
    „Lass mich runter. Mein Kopf fühlt sich ganz gut an, vielleicht kann ich alleine stehen. Hast du mich den ganzen Tag getragen?“
    Jivvin grinste innerlich über den leichten Vorwurf in Ni’yos Stimme. „Was denkst du denn? Ich laufe vor dem Sturm davon, der sich bereits zusammenbraut und spätestens morgen über unsere Köpfe hereinbrechen wird. Es sind noch viele Meilen bis Kauro, dem nächstgelegenen Dorf, also bin ich gerannt, was ich konnte. Außerdem wollte ich deinen Heilschlaf nicht stören.“ Er ließ Ni’yo langsam herunter gleiten, froh, seine vollkommen verkrampften Muskeln entspannen zu dürfen. Als Am’churi war er es gewohnt, großes Mühsal zu ertragen, aber allmählich reichte es selbst ihm.
    Schwankend klammerte Ni’yo sich an die Felsen, bis er sein Gleichgewicht gefunden hatte.
    „Wenn wir nicht über lediglich fußbreite Kanten balancieren müssen, eine Meile über dem Abgrund, könnte ich es eine Weile selbst versuchen“, sagte er entschlossen.
    „Sieh nach oben, du musst über Felsen klettern. Keine Abgründe, aber der Weg ist steil und anstrengend.“
    „Das schaffe ich“, beharrte Ni’yo. Jivvin wusste, was der junge Krieger leisten konnte, wenn er es wollte, und zuckte die Schultern.
    „Mir ist es recht. Also komm, wir sollten es bei Tageslicht schaffen.“
    „Was genau ist Peloromes Nadel denn?“, fragte Ni’yo nach einer Weile. Es fiel ihm sichtlich schwer, sich koordiniert zu bewegen, aber er hielt Jivvins Tempo gut mit.
    „Du wirst es gleich sehen. Wer genau Pelorome war, weiß ich nicht, meine Geschwister sagten immer, ich wäre noch zu jung für solche Geschichten.“ Er verzog geringschätzig das Gesicht. „Wahrscheinlich also eine tragische Jungfer, die von ihrem Vater, Ehemann oder irgendeinem mystischen Ungeheuer gequält und getötet wurde. Egal! Wer ihre Nadel nicht gesehen hat, der kann nicht von sich behaupten, im Land der Tausend Flüsse gewesen zu sein.“
    Es dämmerte, als sie sich durch einen Gesteinsspalt quetschten und eine Felsplattform betraten, die ungefähr fünfhundert Schritt über dem Boden in ein lang gestrecktes Flusstal ragte. Der Ausblick war so atemberaubend, dass Ni’yo minutenlang nur dastand und sich staunend umsah. Unzählige Flüsse, Bäche und Wasserfälle ergossen sich aus den umliegenden Berghängen und vereinigten sich mit dem Strom, der sich träge durch das Tal wälzte, mindestens eine Meile breit an dieser Stelle. Inmitten des eisblauen Wassers erhob sich ein einzelner, spitzer Stein, der tatsächlich an eine Nadel erinnerte. Man konnte von hier aus in benachbarte Täler blicken, die herbstlich belaubten Bäume sehen, die rotgolden glühten, von verirrten Strahlen der untergehenden Sonne erleuchtet. Es schienen wirklich tausend Flüsse zu sein, die man von hier aus zählen konnte.
    „Ich war in ganz Aru und habe so vieles gesehen, was wunderschön war. Aber kein einziger Ort kam diesem hier gleich“, wisperte Jivvin bewegt. Gleichgültig, ob seine Familie ihn vergessen hatte oder nicht, dies hier war seine Heimat, und würde es immer bleiben.
    Ni’yo legte zögernd eine Hand auf Jivvins Schultern. Er sagte nichts, aber seine Geste zeigte, dass er verstand, was seinen Gefährten bewegte, und dafür war Jivvin ihm unendlich dankbar.

23.
     
    Im Schutz der Felsen legten sich früh schlafen. Eisige Winde und das Prasseln von Regentropfen hielten sie allerdings beide wach. Sie wurden zwar in ihrer Nische nicht nass, der Kälte aber konnten sie nicht entkommen. Das Feuer half nicht viel. Frierend lagen sie nebeneinander, jeder in seine Decke gehüllt. Jivvin kämpfte mit sich, bis er es irgendwann nicht mehr aushielt. Er wollte wenigstens aussprechen, was er dachte.
    „Ni’yo?“
    „Hm?“
    „Es ist kalt, wir erfrieren hier beide. Wir könnten … nun, wir könnten unsere Decken teilen, dann wäre es wärmer.“ Jivvin starrte in die Dunkelheit, wappnete sich gegen Spott, Ablehnung, vielleicht sogar Schläge, oder, im schlimmsten Fall, entsetztes Schweigen. Lange Zeit schien es, als würde Schweigen tatsächlich das Einzige sein, was er zu erwarten hatte, aber dann bewegte sich

Weitere Kostenlose Bücher