Die Ehre der Am'churi (German Edition)
zusammengerollt.
Jivvin räusperte sich mühsam und sagte dann leise:
„Was ich getan habe, ist durch nichts zu entschuldigen oder zu verzeihen. Ich habe deine Ehre gestohlen. Wenn du mich dafür richten willst, dann sofort, oder erhebe Anspruch auf mein Blut. Ansonsten begehe ich jetzt Impulkro.“
Er wartete still, doch Ni’yo rührte sich nicht, zeigte mit keinem Wimpernschlag, ob er Jivvins Worte auch nur gehört hatte. Als er es nicht mehr ertragen konnte, wandte Jivvin sich um und zog seinen Dolch. Die Kette hinderte ihn, sich in den Säbel zu stürzen. Sorgsam überlegte er, wie er vorzugehen hatte. Für gewöhnlich musste sich der entehrte Am’churi einfach nur in sein Chi’a fallen lassen und warten, bis er verblutet war, was durchaus einige qualvolle Stunden, in seltenen Fällen sogar Tage dauern konnte. Am liebsten hätte Jivvin gleich einige Wochen damit verbracht, so schmerzhaft und langsam wie nur möglich zu sterben, selbst das wäre als Strafe für sein Verbrechen noch zu gering. Aber er konnte es Ni’yo nicht zumuten, so lange an seiner Seite gefesselt zu bleiben. Dass der jüngere Krieger sich von ihm befreien würde, während er, Jivvin, noch lebte, schloss er aus.
Schließlich entschied er sich für einen schrägen Einstichwinkel unterhalb des Rippenbogens, der mit etwas Glück die große Bauchschlagader treffen und sein Leben binnen kurzer Zeit beenden würde. Hoffentlich nicht zu schnell, er wollte angemessen leiden!
Jivvin schickte ein letztes Gebet an Am’chur, auch wenn sein Gott ihn nicht gnädig empfangen würde, das war gewiss. Doch als er den Dolch ansetzte, bereit, sich zu töten, legte sich plötzlich eine Hand über den Griff und hielt ihn fest.
„Kein Impulkro“, wisperte Ni’yo mit bebender Stimme.
Jivvin senkte demütig den Kopf.
„Also erhebst du den Anspruch auf mein Leben?“, fragte er. Genau das hatte er erhofft – es war besser für Ni’yo, sich eigenhändig zu rächen. Vielleicht würde er dann all dies überstehen können, es irgendwann hinter sich lassen.
„Wenn der neue Tag beginnt“, flüsterte Ni‘yo heiser, sank dann wieder zurück auf sein Lager.
Jivvin rückte so weit von ihm ab, wie die Kette es erlaubte, und wartete zitternd vor innerer und äußerer Kälte, dass diese Nacht endlich enden mochte.
24.
Als die Dämmerung kam, setzte sich Ni’yo auf. Jivvin reichte ihm seinen Säbel und kniete nieder. Es war üblich, die Blutschuld mit der Waffe des Täters zu begleichen. Doch Ni’yo warf die Klinge achtlos zur Seite und sank vor Jivvin nieder, ergriff dessen rechte Hand und umschloss sie fest mit seinen eigenen Händen.
Jivvin nickte verstehend, zwang sich, die Augen zu öffnen und zuzusehen, wie Ni’yo das Martuz vollzog – jene selten angewandte Strafe für entehrte Am’churi, denen der Tod verweigert wurde. Man brach ihnen die Knochen beider Hände dergestalt, dass sie nicht mehr gerade zusammenwachsen konnten. Diese verkrüppelten Krieger konnten sich nur noch als Bettler am Leben erhalten, mussten zudem alles vermeiden, was sie dem Tod näher brachte. Das Martuz zwang sie zu essen, sich vor dem Wetter zu schützen, vor Gefahren in Acht zu nehmen, sogar zu kämpfen, wenn sie angegriffen wurden. Es gab keine schlimmere Strafe, kein härteres Urteil, denn dieses ehrlose Leben war grausamer als jeder Tod. Er hätte nicht gedacht, dass Ni’yo sich dafür entscheiden würde, zwang es ihn doch, noch weiter an Jivvins Seite ausharren zu müssen, bis sie endlich die Fessel loswerden konnten. Aber nun, Ni’yo war schon immer außergewöhnlich gewesen. Wie sehr, das hatte er nie verstanden.
Er harrte auf den Schmerz, das Brechen seiner Knochen. Worauf wartete Ni’yo denn noch? Der junge Mann hielt den Kopf so tief gesenkt, dass Jivvin sein Gesicht nicht sehen konnte. Ob Ni’yo erst Kraft sammeln musste? Quälte es ihn so sehr, die Hand zu berühren, die ihn geschändet hatte? Zweifelte er, ob Jivvin diese Strafe wirklich verdiente?
„Tu es einfach“, flüsterte er. „Es ist gut so, tu es einfach.“
Langsam hob Ni’yo den Kopf, blickte zu ihm auf. Dann führte er die Hand seines Peinigers an die Lippen, küsste jeden einzelnen Finger und gab sie frei.
„Das war alles, was ich heute tun wollte“, wisperte er. Zahllose Emotionen spiegelten sich in seinen Augen, zu viele, als dass Jivvin sie alle hätte benennen können. Angst war am deutlichsten, gefolgt von Schmerz, Trauer, Sehnsucht. Er schüttelte den Kopf, unfähig zu
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