Die Ehre der Am'churi (German Edition)
ein wenig Kraft besaß, würde er mit dieser Verletzung jetzt fertig werden.
Einmal mehr musste er seinen Gefährten von nasser Kleidung befreien und an einem Feuer wärmen, doch diesmal gab es wenigstens Ersatzhosen und eine Decke – auch, wenn die Kleidung des Kalesh zu kurz und zu weit für Ni’yos lange, schmale Gliedmaßen war. Jivvin wunderte sich ein wenig – diese bunten, fließenden Stoffe hätten eher Händlern aus Ettusa angestanden als Schattenelfen. Mit Sicherheit waren sie zur Tarnung gedacht gewesen, aus welchem Grund auch immer. Jivvin hatte nicht gewusst, dass Elfen zu solchen Mitteln griffen, aber wenn er ehrlich war, wusste er insgesamt zu wenig über dieses Volk, um ihre Wege beurteilen zu können.
Sobald er alles getan hatte, was in seiner Macht stand, gönnte sich Jivvin erst einmal etwas zu essen aus den erbeuteten Vorräten. Ni‘yo war nicht mehr richtig erwacht, fiel irgendwann in tiefen, nahezu todesähnlichen Schlaf. Er zitterte nicht mehr, und das Fieber schien zusehends zu schwinden.
„Ist das Glück also doch einmal mit dir?“, murmelte Jivvin erschöpft. Er vermied es, Ni’yo anzublicken. Jedes Mal, wenn dieser Mann so still und wehrlos vor ihm lag, wünschte er, ihn zu berühren … dunkles Verlangen, das nicht nachließ, wenn er es verdrängte, sondern mit jedem Tag an Ni’yos Seite stärker wurde.
Wir müssen diese Fessel loswerden, sonst weiß ich nicht, was geschehen wird!
Sobald er sich satt gegessen und ein wenig ausgeruht hatte, hob er sich die tief schlafende Gestalt wieder auf die Schultern. Es waren noch mindestens drei Tagesmärsche bis zum nächsten Dorf. Je schneller sie diese Strecke hinter sich brachten, desto besser für ihrer beider Seelenheil …
22.
Es war früh am folgenden Morgen, als Ni’yo wach wurde. Zum ersten Mal seit Tagen waren die Schmerzen dabei erträglich, auch, wenn er so schwach wie überhaupt noch nie in seinem Leben war. Ausgetrocknet und regelrecht verhungert versuchte er, sich hinzusetzen, merkte aber schnell, dass er dazu nicht in der Lage war. Alles drehte sich, seine Kopfwunde erinnerte ihn mit Macht daran, dass auch bei einem Am’churi gebrochene Knochen ein wenig Zeit zur Heilung brauchten. Da ihm nichts anderes übrig blieb, musste er also warten, bis Jivvin erwachte und sich möglicherweise dazu herabließ, ihm zu helfen.
Sein Gefährte schlief noch, ihm zugewandt. Auch ihm sah man an, wie fordernd die letzten Tage gewesen waren. Er war schmal geworden, wirkte tief erschöpft. Normalerweise hätte er sofort hochschrecken müssen davon, dass Ni’yo sich neben ihm bewegte.
Mit stiller Verwunderung musterte er Jivvin, studierte das so vertraute Gesicht, wie er es noch nie betrachtet hatte. Das Verlangen, das er so deutlich an ihm wahrgenommen hatte, verwirrte ihn. Jivvin war sein Feind, er verabscheute ihn, Ni’yo, über alle Maßen, hasste es, ihn berühren zu müssen. Genau darauf beruhte ihre Feindschaft doch! Wäre es nur ein Mittel, um ihn zu verletzen, das hätte Ni’yo verstanden, immerhin hatte er im Rausch gezeigt, was er fürchtete. Jivvin kämpfte aber selbst gegen diese Begierde, schämte sich dafür …
Wie es wohl ist, begehrt zu werden und selbst zu begehren? Berührt zu werden, nicht aus Hass oder Mitleid? Zu lieben und Liebe empfangen zu dürfen? Empfindungen, Gedanken, ein Leben miteinander zu teilen?, dachte er voller Sehnsucht. Die Einsamkeit, die er so viele Jahre als einzigen wahren Freund zu schätzen gelernt hatte, drückte ihn einmal mehr nieder. Hier lag er, von aller Welt verabscheut, gehasst und gefürchtet, an seinen Feind gekettet, abhängig von dessen Geduld und Großherzigkeit. Dem Mann, der ihn seit zwei Jahrzehnten zu töten versuchte, wehrlos ausgeliefert. Der einzige Mensch, der ihm außer Hass auch Gnade zu schenken bereit war.
Wenn ich nur wüsste, dass es nicht doch Abscheu ist, nur in neuer Gestalt, warum du mich anfassen willst … ich würde so gerne berührt werden. Umarmt. Gehalten.
Ni’yo schreckte vor seinen eigenen Gedanken zurück. Bin ich wirklich so einsam und verzweifelt, dass ich mich jedem hingeben würde, der mich haben will, egal aus welchem Grund?
Nein. Das war er nicht. Der Gedanke, dass irgendjemand ihn anfasste, und sei es nur an der Hand, stieß ihn ab. Weder Frauen noch Männer hatte er jemals an sich heran gelassen. Jivvin war vertraut, bei ihm konnte Ni’yo er selbst sein, ohne sich beständig zurücknehmen und verstecken zu müssen, um so wenig
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