Die Ehre der Slawen
Verabredung?«
»Ich …!«
Die Antwort, die Paddie ihr nun geben wollte, sollte sie wohl nie erfahren. In diesem Moment hallte nämlich der dumpfe Hufschlag von zwei eilig galoppierenden Pferden den Hügel hinauf. Erstaunt und neugierig zugleich schauten die vier Jugendlichen in die betreffende Richtung.
Zwei slawische Eilboten, unschwer an ihrer leichten Ausrüstung zu erkennen, jagten in Windeseile auf das Dorftor zu. Ihre Umhänge wehten als weite Fahnen hinter ihnen her, so sehr trieben sie ihre Pferde an. Was die Freunde aber gleichzeitig in Angst und Schrecken versetzte, das war die Flagge, die der erste der Reiter an seiner langen Lanze trug. Auf dieser Flagge leuchtete auf weißem Grund ein furchterregender Greif in blutroter Farbe. Das Banner des Liutizenbundes, der heiligsten Vereinigung aller nördlichen Slawenstämme. Von den Obodriten im Westen, den Wilzen in der Mitte bis hin zu den Ukranen im Osten und sogar die Ranen von der großen Meeresinsel 25 , alle Slawenstämme, die einen Rang und Namen besaßen, hatten sich vor einigen Jahren unter dem Zeichen des Greifes zusammengefunden und einen heiligen Eid geleistet. Und wenn die Fahne des Greifes durch das Land getragen wurde, dann bedeutete dies, das alle Streitigkeiten ab diesem Moment zur Bedeutungslosigkeit verdammt waren. Meistens hieß es aber auch nichts anderes, als dass ein furchtbarer Krieg vor der Tür stand. Ein Krieg, den nicht jeder kleine Unterstamm für sich allein ausfocht, sondern ein Krieg, in dem die geballte Macht der geeinten Stämme gefragt war.
»Paddie, mir wird angst und bange!«, flüstere Kosi so leise an sein Ohr, dass ihre Lippen fast sein Ohrläppchen berührten. Gleichzeitig umklammerte die junge Frau mit einer derartigen Kraft seinen Arm, wie er es nie für möglich gehalten hätte.
»He, ihr Täubchen, genug geturtelt«, unterbrach Bikus respektlos die ersten kleinen Annäherungsversuche des noch jungen Liebespärchens.
»Los, nichts wie hin! Lasst uns nachsehen, was geschehen ist.«
Mit tiefem Bedauern entließ Paddie seine Angebetete aus der äußerst angenehmen Umklammerung und so schnell sie konnten, rannten alle nun gemeinsam den Hügel hinunter, in gerader Linie, genau auf das Dorftor zu. Eine große Freude durchflutete Paddie, als Kosi seine Hand ergriff und mit ihm gemeinsam, Seite an Seite, über die Wiese lief.
*
Kapitel 30
Paddie und Kosi erreichten als Erste die Insel. Rapak folgte ihnen dicht auf den Fersen, während Bikus schwere, polternde Schritte noch mitten auf der Brücke hallten.
Die zwei Eilboten hatten bereits ihre Pferde abgesattelt und sich den gröbsten Staub aus ihren Kleidern geklopft. Mit der Flagge des Greifes in der Hand schritten sie auf das große Versammlungshaus zu und riefen laut nach Witka.
Die Freunde kamen gerade noch rechtzeitig, um mit anzusehen, wie die Tür aufschwang und Paddies großer Bruder, auf einem Stock gestützt, vor das Haus trat.
»Sokolov, Mirko, Brüder, Kampfgefährten!«, rief er hocherfreut und humpelte im Eilschritt auf die Ankömmlinge zu. Seine Augen leuchteten und hatten nur Platz für die Gesichter der beiden Männer. Die Fahne des Greifes übersah er in seiner ersten Freude völlig.
»Ihr seid bestimmt gekommen, um mich zu Mstislaw Hochzeit einzuladen«, rief er lachend und schloss seine alten Kampfgefährten aus Calabrien in die Arme. Dass sie ihm die Antwort schuldig blieben, merkte er in diesem Moment nicht.
Inzwischen hatte Bikus seine Freunde erreicht und gesellte sich schnaufend zu ihnen. »Hab ich etwas verpasst?«, war seine erste Frage.
»Psst!«, legte Paddie seinen Zeigefinger auf die Lippen, während Kosi dem kleinen Dicken einen spitzen Ellenbogenstoß in die Rippen verpasste und ebenfalls ihren Finger auf den Mund legte. Als Bikus über die derbe Behandlung lauthals protestieren wollte, warf ihm die junge Frau einfach eine Kusshand zu und hakte sich wieder fest an Paddies Arm unter. Bikus klappte seinen Mund zu, rieb sich den schmerzenden Rippenbogen und begann zu grübeln, warum Kosi ausgerechnet ihm eine Kusshand zugeworfen hatte. Er kam aber zu keinem Ergebnis, und da das Geschehen vor dem Versammlungshaus sowieso weitaus interessanter zu werden versprach, brach er seine fruchtlosen Überlegungen ab und spitzte stattdessen lieber die Ohren.
Die erste stürmische Begrüßung der ehemaligen Kampfgefährten war vorüber und eine erwartungsvolle Stille breitete sich aus.
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