Die Ehre der Slawen
abklang, rann ein dünner Blutfaden aus Staris Mundwinkel. Kalte Schweißtropfen standen auf seiner Stirn und in die geschwächte Stimme mischte sich ein heiseres Röcheln. Mit seinem Hemdsärmel tupfte der Knabe vorsichtig das Blut vom Mund des Verletzten.
»Ach du, mein kleiner Thietmar, du bist so ein gutherziger Junge.«
»Stari, so sag mir doch endlich, was ich tun kann«, flehte der Knabe, »soll ich versuchen, den Pfeil herauszuziehen? Wie sehen die Heilkräuter aus, die ich suchen muss? Soll ich zurücklaufen und Bruder Oddar holen?«
Ein Gesicht voller Güte und Nachsicht lächelte den hilflosen Knaben an.
»Nein, nein, mein Junge, nichts von alledem. Aber höre mir jetzt genau zu! Ich sage dir nun, was du tun musst.«
Thietmar nickte heftig mit dem Kopf und rang verzweifelt die Hände.
Ein erneuter Husten schüttelte den alten, hageren Körper, bevor er sprechen konnte.
»Mein lieber Thietmar, gehe ruhig nur in die Richtung, die dir die Sonne weist. Am Vormittag muss sie in deinen Rücken scheinen. Lass sie nachmittags um deine linke Schulter wandern, bis dich das Abendrot von vorn begrüßt.«
»Und dann, Stari, was ist dann?«
»Dann wirst du die Insel des Riesenmädchens mit eigenen Augen sehen.«
»Aber was ist mit dir? Ich kann dich doch nicht so einfach allein lassen.«
Der Greis wollte etwas entgegnen, jedoch schüttelte ein erneuter Hustenanfall seinen Körper. Danach war er zu geschwächt, um noch etwas zu sagen. Thietmar wollte seinen alten Freund auch nicht mehr länger mit Fragen quälen. Er hockte sich neben ihn zu Boden, legte seinen Kopf in den Schoß des Sterbenden und streichelte mit den Händen sanft über den derben Leinenstoff seiner Hose. Instinktiv merkte er, dass niemand seinem guten Stari mehr helfen konnte. Dicke Tränen kullerten aus seinen Augen.
Der alte Slawe legte seine Hand auf das Haupt des Knaben und flüsterte ein paar tröstende Worte zu Abschied: »Du musst nicht traurig sein, kleiner Thietmar, wenn ich von dir gehe. Ich werde bald in einer besseren Welt sein, dort, wo ich meine Familie und meine Freunde von früher wiedersehen werde.«
Thietmar schwieg nun, lauschte dem immer schwächer werdenden, rasselnden Atem seines alten Freundes nach und spürte durch den Stoff der Hose, wie der ausgemergelte Körper im Todeskampf zitterte. Er dachte an die wunderschönen Geschichten, die sein lieber Stari ihm so oft erzählt hatte, und er erkannte, wie nahe ihm der Greis in Wirklichkeit gestanden hatte. Er ließ seinem Schmerz freien Lauf und schämte sich nicht der unaufhaltsam rinnenden Tränen. In Gedanken malte er sich aus, wie sein guter alter Stari an die heimischen Ufer zurückkehrte und seine alten Freunde begrüßte.
Mit dem Erwachen der Waldvögel, ihrem fröhlichen Zwitschern und Trällern, ging Thietmars leises Schluchzen bald in einen tiefen, ohnmächtigen Schlaf über.
Am frühen Morgen zog Ritter Udo mit grimmiger Miene Bilanz. Der heimtückische Überfall der gottlosen Heiden konnte zwar erfolgreich zurückgeschlagen werden, aber zu welchem Preis. Mehr als ein Dutzend seiner tapferen Männer waren gefallen, fast jeder Fünfte hatte irgendwelche Verwundungen oder Knochenbrüche davongetragen, ein Priester und sieben Knechte waren von tödlichen Pfeilen getroffen worden. Mit am schlimmsten zählte aber wohl, dass der kleine Bengel, aus dem Fürstenhause der von Walbecks, spurlos verschwunden war. Und da die Grafen von Walbeck eine gute Beziehung zum Kaiserhaus unterhielten, konnte sich dies äußerst unangenehm auf Udos gesamte weitere Laufbahn auswirken. Wo sollte er diesen Nichtsnutz nur suchen? Hier, in den unendlich scheinenden Wäldern des Slawenlandes war dies doch ein so gut wie aussichtsloses Unterfangen.
Aber egal, er würde seiner Pflicht Genüge tun und nach dem verschwundenen Balg suchen lassen, ob man ihn fände oder nicht. Als Anführer musste er seiner Truppe sowieso einen Tag Ruhe gönnen, damit die ärgsten Verletzungen halbwegs versorgt werden konnten. An die vielen gefallenen Heiden verschwendete er keine Gedanken, auch wenn die Anzahl ihrer Toten um ein Vielfaches höher lag. Und morgen, ja dann zöge er zu den Moriczern und holte sich das, was ihm im letzten verfluchten Heidendorf verwehrt worden war. Gnade hatte dieses heimtückische Pack sowieso nicht zu erwarten. Jetzt nicht mehr! Er würde ihre Speicher bis auf das letzte Getreidekörnchen leeren, kein Tröpfen Met sollte diesem Pack noch
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