Die Ehre der Slawen
einen Menschen sterben sehen. Und nun das! So viel Blut, so viel Leid, so viel Qualen, dies war einfach zu viel für sein wohlbehütetes kindliches Gemüt.
Als er in Staris Schoß erwachte, lag dessen Hand noch immer auf seiner Schulter. Aber die Hand war nicht mehr warm und freundlich, sondern kalt und starr, so wie der ganze Körper des alten Mannes. Seine Augen waren noch offen, aber ihr Blick war gebrochen. Vergeblich suchte sich der kleine Junge in den Pupillen zu spiegeln, indes sie waren stumpf und glanzlos geworden. Verzweifelt hatte er seinen alten Freund und Begleiter an den Schultern gerüttelt, hatte ihn angefleht, gebettelt, nichts hatte geholfen. Stari war von ihm gegangen, für immer.
Nur langsam konnte Thietmar begreifen, dass sich etwas Endgültiges vollzogen hatte. Die ganze Last der Verantwortung für die nächste Zukunft lag nun ganz allein bei ihm. Niemand würde ihm sagen, was zu tun wäre, niemand war mehr da, den er fragen konnte, niemand, der mit ihm scherzte. Stari war tot! Von einem verirrten Pfeil getroffen, einem Pfeil, der gar nicht ihm gegolten haben konnte, von einem Pfeil seiner eigenen Landsleute.
Mehr instinktiv als bewusst beschloss der Knabe, den Leichnam zu bestatten. Gleich neben dem Toten grub er langsam seine kleinen Hände in den weichen Waldboden und betrachtete gedankenverloren das winzige Loch, das höchstens zum Murmelspielen taugte. Abermals rannen Tränen über seine Wangen, als er die scheinbare Unmöglichkeit seines Vorhabens erkannte.
»Ach Stari, warum nur?«, schluchzte er leise.
In einer Vision sah er, wie sich wilde Tiere über den Leichnam hermachten. Böse knurrende Wölfe zerrten an blutigen Knochen, hungrige Krähen hieben ihre Schnäbel in den ausgemergelten Körper. Thietmar erschauerte. Nein, niemals ließe er so etwas zu! Mit schmutzigen Fingern wischte er die Tränen weg.
»Mein lieber Stari, ich werde dir das schönste Grab ausheben, das du dir vorstellen kannst«, versprach er seinem toten Diener, der auch gleichzeitig sein Freund gewesen war, und machte sich an die Arbeit.
Er grub und wühlte mit einer Verbissenheit, als könne er damit das an Stari verübte Unrecht wieder gutmachen. Als an der ersten Baumwurzel zwei Fingernägel abbrachen, hätte er vor Schmerz und Wut am liebsten laut aufgeschrien. Jedoch kein Laut drang über seine Lippen. Er grub weiter.
Gegen Mittag hatte der kleine Junge sich so weit verausgabt, dass er nicht mehr konnte. Schwer atmend ließ er sich auf den Rücken fallen und drehte dabei den Kopf in Richtung seines alten Geschichtenerzählers. Schweiß rann ihm von der Stirn und tropfte brennend in seine Augen. Dort saß er nun, sein Stari, an einen Baumstamm gelehnt, den starren Blick auf die Grube gerichtet.
»Was meinst du dazu, ist deine letzte Ruhestätte gut genug?«
Als hätte der Leichnam nur darauf gewartet, gab plötzlich ein Stück des lockeren Grubenrandes nach. Staris Oberkörper neigte sich leicht zur Seite und rutschte in das frische Grab hinein. Vor Schreck sprang Thietmar in die Höhe und biss sich schmerzhaft in den Handballen. Fast erwartete er, schwarze Krallenhände auf dem Grunde des Loches zu sehen, die den armen Heiden zu sich in die Unterwelt ziehen würden. Aber nichts dergleichen geschah. Als Thietmar seinen ersten Schreck überwunden hatte und sich langsam herantraute, meinte er ein Lächeln auf den Lippen seines Freundes zu sehen. Der starre Blick des Toten war dabei geradewegs gen Himmel gerichtet.
Nun, wenn dies kein gutes Zeichen war!
»Lieber Gott im Himmel«, begann der Junge zu beten, »wenn deine Güte und deine Gnade wirklich grenzenlos sind, dann nimm diese arme Seele in dein Himmelreich auf, damit sie nicht im Fegefeuer schmoren muss. Du weißt bestimmt, dass mein Freund kein richtiger Christ war, aber du weißt auch, dass er trotzdem immer ein guter Mensch war.«
Thietmar blickte kurz in das Grab hinein und sah, dass der tote Stari immer noch lächelnd in den Himmel starrte. Also hatte Gott sein Gebet bestimmt erhört.
»Ich danke dir, Herr. Amen«, beschloss Thietmar seine fromme Bitte.
Schnell schob er nun Staris Beine in die Grube, die noch auf dem Rande des knietiefen Loches lagen, riss sich ein Stück Stoff aus dem Hemd und bedeckte damit zärtlich das Gesicht des Toten. Nach einem letzten, liebevollen Blick und drei Kreuzen warf Thietmar in Windeseile die ausgehobene Erde in das Grab. Übrig blieb nur noch ein lockerer Hügel, den der
Weitere Kostenlose Bücher