Die Ehre der Slawen
Knabe mit den Händen festklopfte. Dort, wo sich der Kopf des Toten befand, legte er ein paar kleine Steine auf, sodass sie die Form eines Kreuzes bildeten. Aber irgendetwas fehlte noch. Thietmar überlegte, ob der liebe Gott ihm verzieh, dann malte er mit dem Zeigefingefinger kurzerhand vier Gesichter auf das Grab. Wenn sein Stari keine Aufnahme im Himmelreich fände, so konnte er nun ganz getrost zu seinem eigenen Gott auffahren. So, wie es sein letzter Wille war.
Als Thietmar vor seinem fertigen Werk stand, überkam ihm abermals eine tiefe Traurigkeit und Verzweiflung. Wie sollte es nur werden ohne seinen guten alten Stari? Mit einem Ruck wandte er sich ab und floh kopflos in das Unterholz hinein.
Thietmar rannte sich den ganzen Frust und die Trauer buchstäblich von der Seele. Er wusste weder wo er sich befand, noch wie er den Heimweg finden sollte. Aber eines wusste er genau: Er wollte diesen grausamen Udo nie mehr wiedersehen und auch niemals mehr einen Fuß in dieses wilde Heidenland setzen.
Je länger er lief, umso mehr klärten sich seine Gedanken. Schließlich formulierte sich in seinem Kopf ein einziger, übermächtiger Wunsch: Er wollte nach Hause! Allerdings, bis zu den vertrauten Ländereien, nach Walbeck und Stade, war es bestimmt ein fürchterlich weiter Weg.
Abrupt blieb der kleine Junge stehen, als er sich plötzlich des Ernstes der Lage bewusst wurde, in der er sich befand. Wohin führte ihn die eingeschlagene Richtung? Unschlüssig drehte Thietmar sich in alle vier Himmelsrichtungen. Zum ersten Male seit Staris Tod versuchte er logisch zu denken. Sollte er den südlichen Weg nach Magdeburg zurückmarschieren, von wo aus sie aufgebrochen waren, oder sollte er lieber Staris letzten Rat befolgen? Wäre die westliche Richtung, die irgendwann zu den Ufern der Elbe führen musste, vielleicht die günstigste? Wie weit mochte es nordwärts noch bis zur Küste des Östlichen Meeres sein, von wo aus er bestimmt mit einem Boot weiterfahren konnte? In Richtung Osten zu marschieren, dies schied der Junge von vornherein aus, da er sich in dieser Richtung zwangsläufig immer weiter von zu Hause entfernt hätte.
Thietmar hatte also keine Ahnung, in welche Richtung er sich nun wenden sollte, geschweige denn welches der bessere Weg war. Er befand sich inmitten des Wendenlandes, irgendwo auf einem der Stammesgebiete der Redarier, Tollenser oder Moriczer. Aber letztendlich war es egal, wo er sich befand, denn alle Wenden waren Heiden. Gottlose, verfluchte Heiden, die sich einen feuchten Dreck um die heiligen Zehn Gebote des Herrn scherten.
Abermals geisterten die Schreckensbilder der vergangenen Nacht durch seinen Kopf: Der fromme Glaubensbruder, der von einem langen Pfeil tödlich getroffen langsam zu Boden sank, der große stolze Wendenkrieger, der immer noch lächelte, als er von einem bluttriefenden Schwert durchbohrt wurde, die allgegenwärtigen erstickenden Todesschreie, die furchtbaren schmetternden Schläge von Äxten und Schwertern. Aber am schlimmsten war wohl das furchtbare Röhren der wendischen Hörner gewesen, die das furchtbare Inferno eingeleitet hatten. Thietmar schüttelte sich.
Warum nur ließ der liebe Gott diese Gräueltaten zu? Warum konnten die Völker nicht in Frieden miteinander leben?
Thietmar rief sich Oddars letzte Predigt ins Gedächtnis: … seine furchtbare Strafe wird alle Ungläubigen treffen, die sich gegen ihn versündigen … , oder so ähnlich. Aber besagte nicht auch eines der Zehn Gebote: Du sollst nicht töten ?Achselzuckend brach der kleine Junge seine Grübeleien ab. Offenbar war er wohl doch noch zu jung, um all diese widersprüchlichen Dinge zu begreifen.
Thietmar hatte seine eigenen Vorstellungen vom lieben Gott, nämlich die eines alten, weisen Mannes mit langem weißen Bart und wehenden Haaren. Er stellte sich vor, wie der Allmächtige, gerade jetzt mit gütigen Augen auf ihn herabblickte und schützend seine Hand über ihn hielt. Was konnte Gott denn schon dafür, wenn seine Schäflein sich nicht an die Gebote hielten. Seine gerechte Strafe ereilte aber letztlich alle Zweifler und Sünder, spätestens dann, wenn sie vor dem heiligen Petrus stünden und dieser ihnen den Eintritt ins Himmelreich verwehrte. Für alle Sünder, und dies galt besonders für Ritter Udo, öffnete sich stattdessen das Tor zur Hölle. Dessen war sich Thietmar absolut sicher.
Also gut. Mit Gottes Hilfe fände er schon den richtigen Weg.
Kraft seines Glaubens
Weitere Kostenlose Bücher