Die Ehre der Slawen
wurde Thietmar von neuer Zuversicht erfüllt. Aufmerksam betrachtete er nun seine unmittelbare Umgebung sehr genau und versuchte anhand des Sonnenstandes die Himmelsrichtungen zu bestimmen. Der Weg nach Osten, den er sowieso nicht einschlagen wollte, war ohnehin durch schier undurchdringliches Unterholz versperrt. In Richtung Westen lichtete sich der Wald zwar, aber nur, um einem riesigen Moorgebiet Platz zu machen.
Bei Gott, in diesen schwarzen, nach Fäulnis und Verdammnis stinkenden Löchern wollte er um keinen Preis stecken bleiben. Wenn er aber den Weg zurückging, dann träfe er mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder auf Udo und seine Kriegsknechte. Blieb also nur noch die Richtung, die Stari ihm geraten hatte. Eine dicke Träne kullerte erneut über seine Wange, als er sich die letzten Worte des Greises ins Gedächtnis rief.
Und wenn er nun die angeratene Richtung verfehlte? Die Feisneck war sicherlich nur ein kleiner See. Ein See von vielen in einem riesigen Land.
Thietmar versuchte sich die Landkarte ins Gedächtnis zu rufen, die der fromme Oddar ihm erklärt hatte. Oben, da wo der Norden lag, war ganz viel blaues Wasser eingemalt, mit vielen schönen Schiffen und furchtbaren Seeungeheuern. Dort lag das Baltische Meer. Wenn er also die Feisneck verfehlte, brauchte er nur weitermarschieren. Irgendwann musste er unweigerlich die Küste erreichen. Die Ortsnamen Vineta und Arkona tauchten in seinem Gedächtnis auf und ließen für einen winzigen Moment seine Augen leuchten.
Kurz und bündig: Die weitere Richtung war also klar vorgezeichnet. Vorerst galt es jedoch, sich vor den wilden Heiden und Udos Mannen in Acht zu nehmen. Wie wild und todesverachtend sie sich gebären konnten, dies hatte er in der letzten Nacht zur Genüge erlebt.
Thietmar marschierte los, sich immer wieder am Stand der Sonne orientierend.
Wenn das Gelände es zuließ, fiel er in einen leichten Dauerlauf. Seinen Durst stillte er an den zahlreichen kleinen Seen und Bächen. Mit wilden Beeren und Früchten versuchte er den knurrenden Magen zu beruhigen.
Einmal beobachte er eine wendische Siedlung, allerdings aus gebührlichem Abstand. Das Dorf wirkte still und friedlich. Die Bewohner gingen ihren alltäglichen Arbeiten nach, am Seeufer tollte eine Schar Kinder im seichten Wasser. Etwas abseits der Palisaden standen ein paar Frauen, die laut lachend miteinander schwatzten. Näher heranzugehen oder die Einheimischen gar um Hilfe zu bitten, dies getraute sich Thietmar nicht. Nicht mehr seit dem gestrigen Abend.
Schließlich marschierte der kleine Junge traurig weiter. Irgendwann senkte sich die Sonne zum Horizont und der Himmel färbte sich rot. Thietmar achtete darauf, dass das Licht jetzt von vorn kam, so wie es Stari gesagt hatte.
Als die Dämmerung mit Macht hereinbrach, waren die Beine des Knaben schwer wie Blei geworden. Sein schmächtiger Rücken schmerzte und war tief nach vorn gebeugt. Verschwitzt, staubig und zerrissen schlotterte sein ehemals weißes Seidenhemdchen locker um den Oberkörper. Das kurze Wams hatte er schon lange ausgezogen und schleifte es wie einen alten Lumpen hinter sich her. Verfilzt und zottelig standen seine schulterlangen Haare vom Kopf ab, die knielange Hose als auch die Strümpfe hatten schon lange die Farben des Waldes angenommen.
Thietmar war am Ende seiner Kräfte angelangt. Er konnte einfach nicht mehr weiter. Müde und geschunden kroch er unter einen entwurzelten Baum. Ungeachtet der wilden Tiere und Waldgeister, die ihm in seiner momentanen Verfassung völlig egal geworden waren, schloss er seine brennenden Augen, um dem übermächtig gewordenen Schlafbedürfnis nachzugeben. Er wollte nur noch schlafen und nicht eher aufwachen, als bis die Sonne wieder hoch am Himmel stand.
Jedoch, es war ihm keine lange Ruhe vergönnt. Ein gewaltiges Gewitter zog stürmend und donnernd am abendlichen Himmel auf und riss ihn aus dem Schlaf. Die von grellen Blitzen durchzogene Finsternis ließ ihn Tausende Ängste ausstehen. Gewaltige Regen- und Hagelschauer stürzten vom Himmel. Die Sturmböen waren derart stark, dass sein Unterschlupf kein Schutz mehr bot. Völlig durchnässt und vor Kälte bibbernd wäre Thietmar jetzt sogar mit seinem trockenen Schlafplätzchen auf dem Planwagen absolut zufrieden gewesen. Durch unzählige Gebete versuchte er sich Mut zu machen. Hoffentlich ließen ihn jetzt wenigstens die bösen Dämonen der Nacht in Ruhe. Irgendwann, als das Gewitter endlich vorübergezogen
Weitere Kostenlose Bücher