Die Ehre der Slawen
war, fiel der kleine Junge in einen ohnmachtsähnlichen Schlaf.
Mit der ersten Morgendämmerung konnte es Thietmar vor Kälte nicht mehr aushalten. Zähneklappernd kroch er unter dem Baumstamm hervor und bewegte vorsichtig seine steifen und schmerzenden Glieder.
Träger Frühnebel kroch über den Waldboden, große Tautropfen fielen platschend auf seinen Kopf und rannen ihm eiskalt in den Nacken. Gar nicht weit entfernt zog etwas mit vielstimmigem Grunzen vorbei. Erschrocken griff Thietmar an seinen Gürtel und suchte Mut am Griff des kleinen Dolches. In einer anderen Richtung staksten spitze Hufe durch das Laub. Erste Vögel stimmten ihr Morgenlied an und hüpften flatternd von Ast zu Ast.
Aufatmend löste der Knabe seine Hand vom Messer, als sich das Grunzen entfernt hatte. Er zog sich sein feuchtes Wams noch fester um den zitternden Leib und versuchte vorsichtig seine knackenden Gelenke zu lockern. Sein Magen knurrte, im Mund verspürte er einen Geschmack nach nasser Baumrinde und feuchtem Laub. Vor Müdigkeit laut gähnend rieb er seine Augen und überlegte, dass es nun schon die zweite Nacht war, in der er nicht richtig geschlafen hatte.
Trotz aller Strapazen vergaß Thietmar aber seine Pflichten nicht. Er ließ sich auf die Knie nieder, senkte demütig den Kopf und sprach mit leiser Stimme sein Morgengebet: »Lieber Gott im Himmel. Ich weiß, dass Du mir eine schwere Prüfung auferlegt hast und nun genau beobachtest, was ich als Nächstes tue. Ich verspreche Dir aber, dass ich immer ganz fest an Dich glauben werde und auch immer Deine Worte achten will. Ich weiß, dass du mich beschützen und mir den rechten Weg weisen wirst, solange ich immer fromm und brav bin ...«
Ein leises Wiehern drang an Thietmars Ohren. Der Junge zuckte zusammen und lauschte angestrengt in die betreffende Richtung.
Da! Da war es wieder, ganz deutlich, ein Pferdewiehern aus nördlicher Richtung. Wenn dies kein klares Zeichen Gottes war …
»Ich danke Dir, oh Herr. Amen.«
Hellwach sprang Thietmar auf die Beine und rannte stolpernd durch das nasse Unterholz. Nur noch ein einziger Gedanke beherrschte ihn: Ein Geschenk Gottes. Ein Pferd. Mit einem Pferd käme er viel schneller voran und brauchte sich nicht mehr mit schmerzenden Beinen durch diesen unendlich großen Wald schleppen. Er verschwendete keinen einzigen Gedanken daran, dass das Pferd womöglich einen Besitzer haben könnte. Für ihn zählte nur der Zweck als solches und dass es sich zweifellos um eine Gottesgabe handeln musste. Ob er wohl heute noch eines seiner Ziele erreichen würde? Eine große Zuversicht bemächtigte sich des kleinen Jungen. Endlich wieder in einem trockenen, warmen Bett schlafen, endlich wieder nach Herzenslust speisen und trinken.
Übergangslos brach Thietmar durch das dichte Gestrüpp eines Haselnusssstrauches und fiel bäuchlings in das hohe Gras einer Wiese. Der Knabe staunte: Keine einfache Waldlichtung mit verwachsenen Büschen und Sträuchern, sondern eine richtige Wiese lag da vor ihm. Sauber gerodet, von Baumwurzeln, Ästen und Sträuchern befreit, mit blühenden Kräutern und saftigen Gräsern bewachsen. Eine blühende Augenweide, inmitten des dichtesten Waldes. Aber nicht nur das!
Erschrocken blickte Thietmar zu dem unheimlichen Haus hinüber, was sich am Waldrand gegenüber befand. Es war kein normales Haus, keines, wie es die einfachen Bauern oder Waldarbeiter errichteten. Dieses Haus war viel größer und vor allem geheimnisvoller, Furcht einflößender. Seine Seitenwände bestanden aus dicken, aufrecht stehenden Bohlen, von denen jede dritte die Dachtraufe um ein erhebliches Stück überragte. In den Enden der überlangen Hölzer waren runde, finster dreinschauende Gesichter geschnitzt. Mit gestrengen Blicken wachten sie über die Umgebung und jagten jedem Eindringling einen eisigen Schauer über den Rücken. In der Giebelwand, die zur Wiese hin ausgerichtet war, befand sich ein dunkler Eingang. Irgendwelche Fensteröffnungen oder gar eine weitere Tür konnte Thietmar nirgends entdecken.
Der hohe Eingang wurde links und rechts von in die Erde gegrabenen Baumstämmen flankiert. Aus dem oberen Drittel der Stämme hatte ein begnadeter Schnitzer täuschend echte Pferdeköpfe herausgearbeitet. Mit wehenden Mähnen und erhobenen Nüstern starrten sie direkt auf den kleinen Jungen hinab. Mitten auf der Wiese befand sich jedoch die Krönung des Ganzen. Auf einem Sockel aus großen Feldsteinen, von denen einige Thietmar
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