Die Ehre der Slawen
konnte doch kein vernünftiger Mensch sein. Und außerdem herrschte zurzeit doch ein Friede, oder etwa nicht? Der mächtige Fürst Mstislaw stände dem Deutschen Kaiser doch niemals mit eintausend tapferen Reitern zur Seite, wenn ein Krieg zwischen ihnen ausgebrochen wäre. Eintausend, dies war eine Zahl, unter der sich keiner der drei Freunde etwas Konkretes vorstellen konnte. Zehn mal zehn stieß bereits an die Grenzen ihrer Vorstellungskraft, aber zehn mal zehn mal zehn, dies war eine so ungeheuerlich große Zahl, dass niemand von ihnen auch nur auf den Gedanken käme, alle Zahlen der Reihe nach aufzuzählen. Bestimmt waren eintausend Reiter auch viel mehr, als die zur Feisneckburg gehörenden Siedlungen insgesamt an Einwohnern zählten. Mstislaws Heer musste eine gewaltige Streitmacht sein.
In derartige Überlegungen vertieft blieb Paddie plötzlich wie angewurzelt stehen, sodass die nachfolgenden Freunde ihn unsanft anrempelten.
»Da vorn, seht!«, rief er aufgeregt.
Es hätte seiner Aufforderung allerdings nicht bedurft, denn Rapak und Bikus sahen es gleichzeitig: Eine breite tiefe Schneise kreuzte ihren Weg. Ein unübersehbarer Pfad, einer, der gestern noch nicht da war, zog sich mitten durch den Wald. Unglaublich viele Pferde- und Ochsenhufe hatten den Waldboden in einer Breite von mehreren Mannslängen aufgewühlt, niedere Büsche und Sträucher waren von schweren breiten Wagenrädern einfach niedergewalzt worden.
»Bei allen Göttern!«, flüsterte Paddie erschrocken.
Rapak fing sich als Erster. Er ließ achtlos die Leine mit den Schafen fallen, rannte mit schnellen Schritten auf die Spur zu und zerkrümelte prüfend die Ränder der tiefen Abdrücke.
»Ein paar Stunden alt«, stellte er fachkundig fest, »etwa, als wir aufbrachen.«
»Die Steuereintreiber sind hier«, wimmerte Bikus angstvoll.
»Beim großen Swarozyc, der Fischer hat wahrlich nicht übertrieben«, stöhnte Paddie.
Schweigend und voll düsterer Ahnungen erfüllt, musterten sie besorgt die neue Schneise, deren Richtung genau zur Siedlung »Krummer Baum« zielte. Da das kleine Dorf aber über keine Wallanlage verfügte, ständen die Einwohner den gierigen Steuereintreibern schutzlos gegenüber. Um die armen Menschen noch rechtzeitig warnen zu können, dafür dürfte es schon viel zu spät sein.
»Schnell, wir müssen nach Hause!«, verfiel Bikus in eine angstvolle Hektik und blickte seine Freunde mit flehenden Blicken an.
»Warte, nicht so schnell«, überlegte Paddie, »lass uns erst nachdenken, was jetzt zu tun ist.«
»Ja, Paddie hat recht«, stimmte Rapak zu, »was sollten wir denn daheim erzählen, wo wir überhaupt noch nichts Genaues wissen?«
»Aber, aber …«, stotterte Bikus voller Panik, »unsere Familien und …, und unsere Freunde, sie alle müssen sich doch auf der Burg in Sicherheit bringen. Und all die anderen Siedlungen, die müssen doch auch gewarnt werden!«
Paddie dachte kurz nach, bis er als Erster einen vernünftigen Vorschlag formulierte: »Bikus hat recht«, wandte er sich an Rapak, »es braucht seine Zeit, um die Verteidigung vorzubereiten. Ich schlage vor: Wir trennen uns. Bikus läuft so schnell er kann mit den Schafen zurück und warnt unser Dorf. Dem Dorf Eichenwald kann er auf seinem Weg ebenfalls Bescheid geben. Wir beide«, dabei warf er Rapak einen auffordernden Blick zu, »folgen den Spuren und versuchen möglichst viel über die feigen Blutsauger herauszufinden. Erst dann bringen wir uns ebenfalls auf der Burg in Sicherheit.«
Während Rapak zustimmend nickte, sammelte Bikus die Leinen zusammen und trieb mit schrillen Pfiffen die kleine Herde zusammen. Ehe sich die verwirrten Tiere versahen, spürten sie schmerzhaft das Ende einer derben Hanfleine auf ihren Hinterteilen. Mit protestierendem Blöken sprangen sie kreuz und quer in die Höhe, bevor sie sich in Bewegung setzten. Da Bikus sie mit seinen lauten Pfiffen aber immer weiter antrieb, verwandelte sich ihr unruhiger Trab schließlich in eine wilde Flucht. Letztendlich war es Bikus selbst, der Mühe hatte, den durchgehenden Tieren zu folgen. Von den davonrennenden Schafen einfach mitgezogen rannte und hüpfte er mit großen Sprüngen über den Waldboden. Innerhalb kürzester Zeit war er den Blicken seiner Freunde entschwunden. Nur seine lauten Flüche hallten noch für eine Weile zwischen den Bäumen wider.
Paddie und Rapak hingegen verfielen in einen leichten Dauerlauf und folgten den Spuren. Ihre Blicke
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