Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
Haare leuchten im typischen Menopausen-Hennarot, und aus dem Ausschnitt ihres Yogaoberteils quillt viel sommersprossiges Fleisch. Ihre Brüste sehen aus, als lägen sie in zwei waagerecht fixierten Müslischalen. Lydia hat gerade begonnen, ihre Reisetasche zu leeren, ihre erste Amtshandlung muss die Einrichtung eines Herrgottswinkels auf ihrem Nachttisch gewesen sein, eine Muschel und ein Teelicht und das gerahmte Porträt eines alten Mannes, der wie ein Inder aussieht. Ich frage nach seinem Namen, und dann, weil ich ihn noch nie gehört habe, ob er ihr Guru sei, was man halt so fragt auf solchen Wochenenden, jedenfalls dachte ich das, aber es ist eindeutig die falsche Frage. Sie zieht die Luft ein und sagt dann in einem Ton »Gu-ru?«, dass ich denke, wir können in diesem Zimmer genauso gut schon jetzt mit der Schweigephase beginnen.
Also packe ich still meinen Koffer aus, beziehe mein Bett und ziehe Jogginghosen und ein T-Shirt und darüber noch zwei Pullover an. Ich friere schnell. Dann nehme ich mir zwei Paar Socken und eine Wolldecke und will mich auf den Weg zum Gruppenraum machen. An der Tür hält mich Lydia auf, ihr ist wohl eingefallen, dass es die letzte Möglichkeit ist, um noch gewisse Dinge zu klären. Sie fragt beinahe panisch: »Aber das Fenster bleibt nachts ein Stück offen, gell?«, und ich zögere kurz und sage dann, okay, aber mein fehlender Enthusiasmus ist deutlich herauszuhören. Offenbar glaubt Lydia, dass mir noch ein paar relevante Informationen zum Seminar fehlen, denn sie fügt hinzu: »Mobiltelefone sind hier übrigens nicht erlaubt!« Ich schenke ihr ein Krokodilslächeln und flüchte.
Es muss das erste Mal seit meinen Jugendherbergszeiten sein, dass ich mit einer fremden Person ein Zimmer teile. Es ist auch das erste Mal, dass ich an einem Meditationswochenende teilnehme. Nennenswerte Erfahrungen kann ich nicht vorweisen, mein Grundwissen über Buddhismus habe ich mir in den letzten zwei Wochen aus dem Internet heruntergeladen, und es gibt viele gute Gründe für die Annahme, dass ich nicht länger als zehn Minuten ruhig sitzen kann. Ich bin hier, weil Irene mir diesen Kurs empfohlen hat. Stille, Schweigen, Loslassen, das würde mir guttun, und es hörte sich so einfach und schön an, wie sie das sagte. Irene ist meine Therapeutin. Wir sind in all den Jahren immer beim Sie geblieben, aber in Gedanken habe ich sie nie anders als Irene genannt. Beruhigend fand ich auch, dass Irene mir versichern konnte, es handle sich dabei nicht um eine Esoterik-Veranstaltung, der Kursleiter sei ein alter Freund von ihr und ein sehr bodenständiger Mann. »Sie gehen dahin und machen das einfach nur für sich, Mila«, hat sie gesagt, und auch das hörte sich schön an, aber trotzdem verging nach meiner Anmeldung kein einziger Tag, an dem ich nicht lieber einen Rückzieher gemacht hätte.
Immerhin habe ich es bis hierher geschafft. Jetzt laufe ich einen Flur entlang, dessen Wände mit Drucken von asiatischen Schriftzeichen behängt sind, und suche nach der richtigen Tür. Neben einer ist ein Schild mit der Aufschrift »Kleiner Meditationsraum«, davor stehen drei Paar Hausschuhe, präzise nebeneinander ausgerichtet. Die Tür ist angelehnt. Ich stelle meine Schuhe dazu und vertausche den rechten mit dem linken, sodass sie auseinanderstreben, so viel Rebellion muss sein.
Der Raum hinter der Tür ist nicht klein, sondern groß wie ein Klassenzimmer. Matt glänzende Holzdielen, leere weiße Wände, schmucklos bis auf eine Bodenvase, in der ein paar Herbstzweige stecken. Aber das Schönste ist das große Panoramafenster mit seiner Aussicht auf prächtige Laubwälder, die jetzt zur Sonnenuntergangszeit in wilden Gelb- und Orangetönen leuchten. An beiden Längsseiten sind Matten mit Meditationskissen ausgelegt, und Gerald, der an der Stirnseite des Raums nahe der Eingangstür sitzt, sagt mir, ich solle mir einen Platz bei den Frauen aussuchen, und weist zur Wandseite, die den Blick auf die Herbstlandschaft bietet. Ich bin entzückt, dann fällt mir ein, dass ich die meiste Zeit hier drinnen mit geschlossenen Augen verbringen werde. Die Frauenreihe ist noch leer, ich wandere sie bis zum Ende entlang, ich zähle zehn Plätze und wähle den vorletzten aus. Auf der Fensterseite gegenüber sitzen bereits zwei Männer in vorbildlicher Meditationshaltung und mit geschlossenen Augen, Streber, denke ich sofort, und gleich darauf frage ich mich, ob in den nächsten zwei Tagen wohl all meine innere Schlechtigkeit aus
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