Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
mir hervorbrechen wird wie ein Haufen Unrat aus einer umgekippten Mülltonne.
Allmählich füllt sich der Raum. Meine Zimmergenossin Lydia sieht mich am Ende der Reihe sitzen und entscheidet sich, ganz vorn zu bleiben. Miss Marple kommt zielstrebig auf mich zu und nimmt den letzten Platz in Beschlag. Sie hat einen Plastikstuhl dabei, den sie jetzt liebevoll mit Tüchern und Kissen ausstaffiert. »Ich kann nicht mehr so lange auf dem Boden sitzen«, flüstert sie mir zu, als sie meinen Blick bemerkt. Auch bei den Männern wird kräftig umdekoriert: Der sehnige, weißhaarige Herr mit der sonnengegerbten Haut, der von jetzt an Clint Eastwood heißen wird, hat sich ein kleines Holzbänkchen zum Sitzen mitgebracht, das mir sehr unbequem erscheint. Vielleicht will er sich quälen, aber die Wahrheit ist, dass ich überhaupt keine Ahnung habe, wie man auf so etwas sitzt. Der Typ mit den Rastalocken türmt zwei Meditationskissen übereinander, polstert den Boden vor sich mit einer weiteren Matte aus, und als er endlich fertig ist mit seinen Vorkehrungen und noch eine Decke um sich gewickelt hat, sieht er aus wie ein menschliches Dreieck, das alle anderen Männer um Haupteslänge überragt. Überhaupt hat das Einnehmen der Plätze bei den meisten etwas vom Nestbauen, und im Gegensatz zu mir scheinen sie sehr wohl zu wissen, welche Requisiten sie dafür brauchen. Jetzt lässt sich Namevergessen, die schon vorhin neben mir im Speisesaal gesessen hat, zu meiner Rechten nieder, allerdings war es auch der letzte freie Platz. Wir sind vollzählig: zehn Frauen, acht Männer.
Gerald wartet geduldig, bis alle zur Ruhe gekommen sind. Dann heißt er uns ein weiteres Mal willkommen, bittet um pünktliches Erscheinen zu den Sitzungen und beginnt mit der Einführung. »Unser Atem ist unser Freund und ständiger Begleiter. Geben wir ihm Raum!«, sagt er, und seine Stimme ist ein leicht monotoner Singsang. »Indem wir ihn betrachten, entwickeln wir neben der Fähigkeit zur Achtsamkeit auch die Fähigkeit zur inneren Stille. Wir kontrollieren ihn nicht, wir lassen ihn selbst seine eigene Form und seinen eigenen Rhythmus finden. Wir nehmen ihn in unserem Heben und Senken der Bauchdecke wahr, wir fühlen, wie er das Innere unserer Nasenflügel streift, wie er durch die Nase, den Hals, in die Brust, in den Bauch hinein- und dann wieder herausströmt. Unser Atem kann flach oder tief sein, mal geht er schnell oder langsam, mal ist er fließend oder unterbrochen.«
Jemand hustet, und einige versuchen, ihr eigenes Räuspern in seinem Windschatten unterzubringen. Auch ich spüre plötzlich ein Kratzen im Hals, es ist das gleiche gruppendynamische Phänomen wie bei einer Pause im Konzertsaal.
»Wir beobachten den Atem wie eine Mutter, die den Bewegungen ihres Kindes zuschaut«, fährt Gerald fort. »Liebevoll, jedoch entschieden, weich, jedoch genau, und mit einem entspannten, aber fokussierten Bewusstsein. Wenn Gedanken und Bilder in unserem Geist auftauchen, lassen wir sie vorbeiziehen und kehren immer wieder geduldig und beharrlich zu unserem Atem zurück.«
Atem beobachten, das mache ich mit links. Die Sache mit den Gedanken und Bildern scheint mir wesentlich schwieriger zu sein. Wie bitte soll ich es hinkriegen, hier Stunde um Stunde zu sitzen und NICHT über mein verdammtes Leben nachzudenken?
»Aber nicht nur innere Gedanken und Bilder, auch Geräusche, Gefühle und Körperwahrnehmungen werden uns immer wieder ablenken. Wem es hilft, der mag mit seinen Atemzügen von eins bis zehn zählen und dann wieder von vorn beginnen oder beim Einatmen ›ein‹ und beim Ausatmen ›aus‹ denken, um den Geist zu beruhigen und zur Achtsamkeit zurückzukehren.«
Gerald macht eine längere Pause, dann sagt er: »Wir werden fünfundvierzig Minuten sitzen und fünfzehn Minuten gehen. In dieser Viertelstunde bewegen wir uns in gerader, aufrechter Haltung durch den Raum, die Handflächen liegen locker übereinander auf dem Bauch oder hinter dem Rücken. Wir setzen den Fuß zuerst mit der Spitze auf und rollen ihn langsam ab. Unsere Bewegungen sind langsam und fließend und im Einklang mit unserem Atem, der Blick ist weit und unfokussiert.«
Das gefällt mir, das würde ich am liebsten gleich ausprobieren. Beim Gehen dürften meine Chancen wesentlich größer sein, meine Innenwelt zum Schweigen zu bringen. Ich hätte lieber gleich ein Gehmeditationsseminar buchen sollen. Gibt es so etwas überhaupt? Gehen klingt viel besser als sitzen. Gerald, ich möchte
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