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Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)

Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)

Titel: Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susann Pásztor
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geht, könnte ich eigentlich wieder anfangen, meinen Atem zu beobachten. Wenige Minuten später fühle ich, wie mein Hintern taub wird.
    Als endlich der Gong ertönt, klingt er wie die zarteste aller Erlösungen, und ich habe in der Zwischenzeit bei mir ADHSdiagnostiziert, anders kann ich mir diese innere Unruhe nicht erklären. Ich schwanke, als ich auf beiden Beinen stehe, dann reihe ich mich in die Schlange ein. Wir drehen hintereinander im Schneckentempo unsere Runde durch den Raum. Ich bemühe mich, bewusst und akzentuiert einen Fuß vor den anderen zu setzen, und es ist überraschend schwierig, dabei das Gleichgewicht zu halten. Mein Vordermann geht so langsam, dass ich immer wieder auf der Stelle treten muss, um nicht in ihn hineinzulaufen. Er hat die Hände auf den Rücken gelegt, die linke Hand umfasst das Gelenk der rechten, genauso ist Herr Scholz immer auf dem Schulhof herumgelaufen, wenn er Pausenaufsicht hatte. Plötzlich bin ich wieder acht Jahre alt und schleiche Herrn Scholz hinterher, um ihm unbemerkt einen Zettel an den Rücken zu heften. Was steht auf dem Zettel? Auf dem Zettel steht in meiner eigenen, ungelenken Kinderhandschrift RUHE BITTE.
    Von jetzt an, nehme ich mir vor, wird das mein Spickzettel sein, ich werde ihn bei jeder Gehmeditation in Gedanken am Rücken der Person befestigen, die vor mir läuft. Er soll beim Sitzen an den Innenseiten meiner Augenlider hängen, und für den Fall, dass ich sie öffne, will ich ihn auf den Boden vor mir projizieren. Leider ist seine pädagogische Wirkung ebenso flüchtig wie die von allen anderen Ermahnungen aus meiner Schulzeit. Ich probiere es in der zweiten Sitzrunde mit neuen Aufschriften, mit Beleidigungen und Beschwörungen, ich schreibe eine ausgedachte mathematische Formel auf den Zettel, ich zeichne eine Sonne, ein Herz und das Haus vom Nikolaus, und am Ende falte ich ein Papierschiff daraus. Ich verbringe die gesamte Dreiviertelstunde bis zum Ende der Sitzung mit dem Ersinnen von raffinierten Tricks, mit denen ich meinen Geist zum Schweigen bringen könnte. Immerhin: Ich habe kein einziges Mal meine Augen geöffnet. Ich war ganz bei mir.
    Ganz bei mir zu bleiben gelingt mir beim Abendessen überhaupt nicht, obwohl die Voraussetzungen dafür bestens sind. Die einzigen Geräusche stammen vom Klappern des Geschirrs und von Stühlen, die vor- und zurückgeschoben werden. Das Essen ist einfach, aber liebevoll zubereitet, und es sollte eigentlich kein Problem sein, sich voll und ganz darauf zu konzentrieren. Trotzdem schaffe ich es nicht, den Radius meiner Aufmerksamkeit auf meinen eigenen Tellerrand zu begrenzen. Mein Gehirn giert nach Informationen. Ich kenne das, es überfällt mich auch zu Hause bei meinen einsamen Mahlzeiten, und wenn keine Zeitung zur Hand ist, schrecke ich nicht einmal davor zurück, die Herstellerangaben auf der Verpackung meiner Frühstücksflocken zu lesen, in sämtlichen Übersetzungen.
    Mir gegenüber sitzt ein Mädchen, deren fünf Piercings so akkurat in ihrer Augenbraue sitzen wie die Kichererbsen auf ihrem Salatteller, die sie zuerst herausgepickt und dann als Perlenkette angeordnet hat. Nebenan häuft Clint Eastwood unfassbare Mengen einer vegetarischen Paste auf sein Brot und verschlingt es mit gierigen Bissen. Ein ansehnlicher Batzen der orangefarbenen Masse bleibt an seiner Oberlippe hängen und fällt ihm unbemerkt in den Schoß, als er sich seiner Suppe zuwendet. Jetzt sehe ich doch weg. Ich verbringe die nächsten Minuten mit der Überlegung, ob vegetarische Nahrung irgendeinen positiven Einfluss auf die Ästhetik beim Essen hat, und komme zu keinem Ergebnis. Dann stehe ich auf, bringe mein Geschirr zur Spüle und treffe dort erneut auf Miss Marple. Ich würde mich gern revanchieren für ihre Freundlichkeit und den Abwasch für sie übernehmen, weiß jedoch nicht, wie ich es kommunizieren soll. Jemand rempelt mich von hinten an, ich drehe mich um und sehe in ein erschrockenes Männergesicht. Er kann das Wort »Entschuldigung« gerade noch zurückhalten, aber ich mein Lächeln nicht, mein universelles Ist-schon-in-Ordnung-Lächeln. Ein echter Fauxpas. Schuldbewusst richte ich meinen Blick auf den Boden und gehe in mein Zimmer, wo ich die halbe Stunde bis zur Abendsitzung auf dem Bett damit totschlage, mir zu sagen, dass hinter der Stille die Angst vor dem Sterben und hinter der Angst die Liebe wartet. Das ist von Irene. Es gefiel mir, als ich es zum ersten Mal hörte. Jetzt finde ich es bedrohlich.
    Als die

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