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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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tiefer ein, er nahm sich nun die Füße vor, linker Fuß, bang, rechter Fuß, bang, unerträglicher Schmerz, zusätzlich verschärft durch die Ungewißheit – wie lange würde sie brauchen, bis sie tot war, eine Stunde, zwei Stunden, vielleicht den ganzen Tag?
    Das Karussell setzte sich in Bewegung. Sie versuchte sich mit Wissenschaft abzulenken, mit den richtigen pathologischen Ausdrücken, die Hypercarbie, die starrkrampfartigen Kontraktionen, der Nagel durch den ersten intermetatarsalen Zwischenraum, der Nagel durch Flexor retinaculum und die Intercarpalbänder, aber es hatte keinen Zweck, die Muskeln blieben verkrampft, die heißen Messer hörten nicht auf mit Beißen und Brennen. Normal zu atmen war unmöglich; die Körpermasse an den ausgestreckten Armen füllten die Lunge bis zum Bersten mit Luft. Um auszuatmen, mußte sie sich auf die Füße stellen, das ganze Gewicht auf die Fußwurzeln verlagern und dadurch weißglühende Korkenzieher durch die mißhandelten Nerven treiben.
    Die Dampforgel hörte auf zu spielen.
    »Ich… verdiene… das«, sagte eine Stimme.
    »Niemand… verdient das«, antwortete Julie. Sie warf den Kopf nach links.
    »Ich schon«, sagte der bärtige Gefangene. »Steht in der Bibel… Jesus fordert… Todesstrafe… für solche… wie mich.«
    »Bist du… schuldig?«
    »Freundin… vergewaltigt… umgebracht… Doktor sagte, ich bin ein… Psychopath… Aber… in Wahrheit… Pornographie… hat mich… dazu gebracht.«
    Der Schmerz kam nun in Wellen, als sei ihre Hinrichtung die obszöne Version einer Geburt. Nach jedem Schmerzhöhepunkt brachen die begleitenden Qualen durch, die brennende Sonne, der Schwindel durch die Drehung des Karussells, und ein Durst, der direkt aus einer Erzmine in der Hölle stammte.
    »Wir sind… miteinander… verbunden«, sagte der andere Gefangene.
    Julie drehte den Kopf auf die andere Seite. »Hab ich… dich schon getroffen?«
    »Gabe Frostig… Hat dein Vater nichts erzählt… Er hatte… einen Embryo… dich.«
    »Du hättest mich runterspülen sollen… in die…«
    »Hätt ich fast getan.«
    Schmerz, Sonne, Schwindel, Durst. Schmerz, Schwindel, Schmerz. Sie wollte nur noch sterben. Es gab wirklich Dinge, die schlimmer waren als der Tod, o ja…
    »Ich habe… Durst… bitte…«, sagte sie.
    »Durstig?« fragte der Henker.
    »J… ja. Bitte.«
    »Ich hab genau das Richtige.« Er hielt ihr mit der Mündung des Schußapparates ein dickes, tropfnasses Ding hin. »Trink!«
    Ein Schwamm. Matthäus 27,48, Markus 15,26, Johannes 19,29. Hatten sie denn überhaupt kein Schamgefühl? Sie öffnete den Mund und saugte an dem vollgesogenen Gewebe. Das Tier roch nach See. Der Saft schmeckte wie salzige Pisse. Die Flüssigkeit griff ihre Zähne an, verbrannte die Mandeln, verursachte heftige Übelkeit in den Eingeweiden.
    »Wie lange… noch?« fragte sie Frostig. Die durchbohrten Bänder verzogen ihre Hand zu einer Klaue.
    »Weiß nicht… zwei Tage… am Ende… ist es die Luft… Keine Luft… Du kriegst keine Luft mehr… Asphyxie durch Erschöpfung… das schreiben sie in den… Totenschein… Vielleicht auch… hypovolemischer Schock, streßinduzierte Arrhythmie, peri… perikardiale Effusionen… wenn du Glück hast.«
    Perikardiale Effusionen. Wie der Vater, so die Tochter. Ihrem Herzen war es bestimmt, zu kollabieren.
    Die Dampforgel fing wieder an zu spielen.
    »Trink!« forderte der Henker auf und bot ihr noch einmal den Schwamm an.
    Sie trank. An der Verbindungsstelle von Rückgrat und Schädel spürte sie ein deutliches Prickeln. Silberne Sterne drehten sich in ihrem Kopf. Sandburgen explodierten.
    On the Boardwalk in Atlantic City.
    Da sang jemand.
    Frostig? Der Mörder? Der Henker?
    Nein, das bin ich.
    We will walk in a dream.
    Und sie erhob sich. Julie Katz lag sterbend im Zirkus der Freude, sang keuchend einen miserablen Schlager, aber gleichzeitig schwebte sie schon hoch oben, zog in großen Kreisen um die Statue des heiligen Johannes, den Bildschirm, die Flutlichter. Sie schaute hinunter und sah sich selbst, blutend und singend, ans Karussell geheftet. Sah sich selbst: eine Vision, denn manches konnten Augen, und nur Augen tun, diese nassen, in Knochen gebetteten gelatinösen Kugeln, nach hinten mit dem visuellen Cortex verdrahtet. »Traum«, sagte sie wieder. Es gab also noch eine Zunge, die wild in ihrem Mund umherzuckte wie ein gestrandeter Fisch. Also hatte sie die Erde verlassen – na und? Die da oben war eben auch eine Inkarnation, und

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