Die eingeborene Tochter
Fallgatter fiel herab. Sie konnte ihre Furcht spüren; konnte spüren, wie sie sich um ihr Rückgrat wand wie die Schlange um den Stab des Hippokrates. Ich will nicht sterben, Mutter! Ich will absolut nicht sterben!
Auf dem Monitor kniete Melanie Markson wie im Gebet. Ihr kürbisfarbenes Haar floß wie ein Tischtuch über den Hackstock. »Nein!« schrie Julie, als der Henker die Starterschnur an der Säge zog. »Um Gottes willen, nein!« Der Motor sprang an. »Aufhören!« Die Kettensäge senkte sich, fraß sich in Melanies entblößtes Genick, durchtrennte Nerven und Knochen in einer einzigen eleganten Bewegung. Die Leute sprangen auf. Ovationen für den Henker. »Nein, nein!« Der Kameramann nahm alles auf, schwenkte geschickt mit Melanies Kopf mit, der, sich zweimal überschlagend, in einer niedrigen Düne wie eine Kirsche auf einem Berg Schlagsahne zu liegen kam. »Nein, nein!!«
In den nächsten vierzig Minuten schnarrte die Säge, rollten die Köpfe. Julie weinte. Ihr Schluchzen wurde vom Geräusch der Kettensäge und dem Jubelgeschrei der Zuschauer übertönt. Ihre Tränen waren schwer und heiß, aber sie weinte nicht mehr nur um sich selbst. Sie weinte um Melanie. Um Georgina. Um Marcus Bass, um die hingeschlachteten Touristen auf dem Boardwalk; sie weinte um jeden Menschen, der je um einer Sache willen gestorben war, an die irgend jemand anderer geglaubt hatte. Als der Akt schließlich vorbei war, gondelte ein hagerer junger Mann im Harlekinkostüm – schwarze Maske, Trikot mit Rautenmuster – über das Feld und sammelte die Köpfe mit einer Schubkarre ein. Julie schlug mit dem Armstumpf auf die Bank, rammte ihre bloße Ferse in den Schmutz.
Pause. Als der Harlekin die Köpfe vom Platz gefahren hatte wie ein Farmer eine Ladung Kohlköpfe, stellte eine Gruppe Arbeiter in Torquemada Memorial-Hemden rund um den Platz große Leitern auf.
ZWEITER AKT: SEIN LICHT LEUCHTET EWIG stand auf dem Monitor.
Der Mann im weißen Zylinder schritt auf den Warteplatz und blies in die Pfeife, woraufhin die übriggebliebenen Gefangenen wie Schulkinder bei einer Feuerwehrübung von ihren Bänken aufstanden und auf den Richtplatz hinausgingen. »Du nicht«, sagte er zu Julie. Lippen und Nüstern bebten förmlich vor Verachtung. Aber natürlich, dachte sie, Sheila ist was ganz Besonderes, Sheila kriegt ihren eigenen Akt in dem Schauspiel.
In einer Reihe elegant komponierter Großaufnahmen konnte man beobachten, wie ein halbes Dutzend Harlekine die Ketzer an die Leitern ketteten und ihnen bis zu den Knien Feuerholz aufschichteten.
Zoom: Stroh, Zweige, Holzscheite, Ginflaschen, Kokainlöffel, Spritzen, feministische Schriften, Romane von Kurt Vonnegut, alte Ausgaben von Groin, Wet und Ms. Videokassetten: Swedish Nuns, Bonnie Boffs, The Vienna Boys Choir, dann Nacktfotos, wie sie Papas beklopptere Kundschaft ins Photorama gebracht hatte – Stöße von Sünde, Stapel von Schlechtigkeit, Haufen von Laster, ganze Dämme, erbaut von linksgerichteten, drogensüchtigen, geilen Bibern.
Schnitt: Eine Reihe Trompeter blökte drei scharfe, anschwellende Töne.
Schnitt: Der Großpastor selbst, Milk, der heilige Brandstifter, mit glasigem Auge und gefalteten Händen.
Schnitt: Der blonde Henker, wie er zwischen den Leitern einherschreitet, mit fauchendem Flammenwerfer die Scheiterhaufen anzündet, das Feuer ausschüttet über das sündige Fleisch.
Der Regisseur brachte während der Verbrennung eine Reihe extremer Großaufnahmen. Aus aufgerissenen Mündern strömten Rauch und Funkengarben, Silben der Einäscherung, von Blasen bedeckte Gesichter, qualvoll zuckende Leiber wie gestrandete Aale, geschwärzte Schenkel, Augen, die in der Hitze zerplatzten, brennende Haare und brutzelnde Muskeln. Julie spürte die Hitze auf der kahlen Kopfhaut. Schmerzgekreisch erfüllte die Luft. Fettige obszöne Rauchwolken trieben über die Arena hin.
Zweite Pause. Die Arbeiter trugen Aluminiumeimer mit Wasser herein – es stammte aus dem heiligen Fluß, wie ein Untertitel am Bildschirm erklärte. Sie schütteten das heilige Wasser auf die flammenden Scheiterhaufen, löschten sie mit derselben Begeisterung, mit der Julie einst Atlantic City gelöscht hatte. Dann machten sie die Ketten von den heißen Gebeinen los, steckten sie in gummierte Leichensäcke und schafften sie vom Feld.
DRITTER AKT: EINE ANTI-KREUZIGUNG FÜR EINE ANTICHRISTIN.
Jetzt war es soweit. Kein Ausweg mehr.
Julie saß allein auf ihrer Bank, zitterte und stöhnte. Plötzlich spürte
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