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Die eingeborene Tochter

Die eingeborene Tochter

Titel: Die eingeborene Tochter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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sie, daß sie die Kontrolle über ihre Blase verloren hatte. Die warme Pisse lief ihr den Schenkel hinunter.
    Unter dem Fallgatter erschien ein Heuwagen, darauf der Mann im weißen Zylinder; vorne angeschirrt ein räudiger, halblahmer Esel. »Geh rein!« befahl er. »Jüdische Antichristin«, fügte er leise murmelnd hinzu.
    »Wenn ich mich doch so fühle!« rief sie speichelsprühend. Der Esel schrie. Der durchnäßte Pyjama fühlte sich kühl an.
    »Rein mit dir, Königin der Juden!«
    Julie schaute auf den Monitor. Zwischen den Beinen der Johannes-Statue glitt ein riesiger Apparat hervor, der gleichermaßen frivol und bösartig, wie auch vertraut und grotesk erschien. Das war nicht irgendein Karussell, wie sie gleich erkannte, sondern das berühmte Karussell vom Steel-Pier, wo sie und Phoebe den hölzernen Hengst gestohlen hatten. Ob welche von den anderen Tieren noch da waren, konnte sie nicht sagen, denn das Karussell war wie ein verfluchtes Gebäude mit Brettern vernagelt, der ganze Bereich vom Gesims bis zur Plattform herunter eine riesiges Damebrett aus weißen und schwarzen Sperrholzplatten, was dem alten Ding das Aussehen einer aufrecht stehenden Baßtrommel verlieh. Das Karussell drehte sich; immer rundherum zur blökenden Melodie der Dampforgel: ›On the Boardwalk of Atlantic City.‹
    Zwei Männer in Gefangenenpyjamas waren auf weiße Tafeln genagelt und drehten sich blutend mit dem Karussell. Gekreuzigt.
    Lachend stieg Julie auf den Heuwagen und setzte sich auf das weiche Stroh. Der Kutscher ließ die Peitsche knallen, und der Wagen rollte hinein. Julie wurde durchgeschüttelt. Es war wie ein Ritt auf dem gestohlenen Holzpferd. Lachend: denn das war ja alles ganz lustig, nicht wahr, sie hatte schließlich Sinn für Humor. Sie dachte an den Kurs über Kommunikation in ihrem zweiten College-Jahr zurück, Gegenströmungen der Popkultur, wo der idiotische Professor praktisch überall vom Superman-Comic bis zu Elvis christliche Symbole gefunden hatte. Sagen Sie, Dr. Sheffield, wenn eine Frau ans Steel-Pier-Karussell genagelt wird, macht sie das irgendwie zu einem christlichen Symbol?
    Der Kutscher brachte den Wagen drei Meter vor dem Karussell zum Stehen. Sofort kletterte ein Quartett schwarz maskierter Harlekine auf den Wagen; Taranteln gleich, die einen Bananendampfer überfallen. Ihre Augen schienen Strahlung jenseits des Spektralbereichs wahrzunehmen, der dem Sehvermögen sonst zugänglich war: stechende, haßerfüllte Blicke, geil aufs Töten. Lachend drehte sie sich weg. Die beiden Gekreuzigten trieben vorbei, das Blut hatte Muster aufs Sperrholz gemalt – Flußsysteme, Wurzelgeflecht, Nervensysteme. Halb tot, halb lebendig drehten sie sich vorbei, einmal, zweimal, ein drittes Mal, ein bärtiger, untersetzter Mann und ein gnomenhafter Kahlkopf mit Knollennase. Sie kamen nahe. Sie hätte die Stahlnägel berühren, den Schweiß ablecken können. Und nun kam der blonde Henker. Er trug einen Apparat, ein Zwischending aus Fahrradpumpe und Bohrmaschine. Natürlich war das weder Fahrradpumpe noch Bohrmaschine: es war ein elektronischer Nagelschußapparat, ein moderner Malleus maleficarum, auf dem Stand der Technik, denn man schrieb 2013, die Zukunft hatte schon begonnen, Hammer und Eisenstifte verdrängt.
    Julie lachte. Das Karussell wurde langsamer.
    »Steh auf!« schrie der Henker über das Brüllen der Dampforgel.
    Lachend stand Julie auf.
    Das Karussell hielt an. Sie stand genau vor einer weißen Holzplatte, der bärtige Gefangene zu ihrer Linken, der Gnom zu ihrer Rechten.
    »Arme hoch!«
    Lachend hob Julie die Arme. Die Harlekine preßten sie fest ans Holz. Sperrholzsplitter stachen sie durch den Pyjamastoff in die Haut. Der Henker hob den Schußapparat und preßte die Mündung auf ihren linken Handteller. Kein Gelächter mehr. Es war nichts mehr übrig, kein Glucksen und Kichern. »Nein!« Sie zitterte innerlich und äußerlich; Knochen, Milz, Leber, Pankreas zitterten und bebten. »Nicht! Nein!« Das konnte gar nicht geschehen, konnte nicht…
    Bang, brennend explodierender Schmerz – »Nein! Hör auf! Nein!« und wieder, bang, ein zweiter feuriger Bolzen, diesmal ins Handgelenk – »Aufhören! Nein! Hör auf!« –, und dann, der Verstümmelung Rechnung tragend, die Lücke, bang, bang, zwischen Elle und Speiche, bang, drei Nägel in einer Reihe hefteten ihren rechten Arm an die Wand. Der Wagen fuhr unter ihr weg, die vollen hundertdreißig Pfund hingen an den Nägeln, die schnitten tiefer und

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