Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
von Schülern auf das erste Läuten, obwohl er sich außerhalb des Vordachs einen nassen Kopf holte.
Drinnen suchte er als Erstes den Plan, auf dem die Lage der Klassenzimmer verzeichnet war, weil er niemanden fragen wollte.
Die 10 f hatte den letzten Raum im Gang auf dem ersten Stock. Mattia holte tief Luft und trat ein. Er ging durch bis zur hinteren Wand und wartete dort, die Daumen unter die Träger seines Rucksacks geschoben und mit einem Blick, als würde er am liebsten in dieser Wand versinken.
Die Schüler, die jetzt ihre Plätze einnahmen, bedachten ihn abwechselnd mit einem scheuen Blick. Keiner lächelte ihn an. Einige tuschelten miteinander, und Mattia war sich sicher, dass es um ihn ging.
Er behielt die noch freien Plätze im Auge, und als auch der neben einem Mädchen mit rot lackierten Fingernägeln besetzt wurde, fühlte er sich erleichtert. So huschte er, kaum hatte die Lehrerin das Klassenzimmer betreten, in die letzte noch freie Bank, direkt am Fenster.
»Bist du der Neue?«, fragte ihn sein Banknachbar, ein Junge, der ganz danach aussah, als sei er genauso allein wie er selbst.
Mattia nickte, ohne ihn anzuschauen.
»Ich bin Denis«, stellte sich der andere vor, indem er ihm die Hand reichte.
Mattia drückte sie schwach: »Angenehm.«
»Herzlich willkommen«, sagte Denis.
5
Viola Bai wurde von allen Klassenkameradinnen mit der gleichen Hingabe bewundert und gefürchtet, denn sie war einschüchternd schön und kannte mit ihren fünfzehn Jahren das Leben gründlicher als alle Gleichaltrigen, oder zumindest verstand sie es, diesen Anschein zu erwecken. Montagmorgens in der Pause versammelten sich die Mädchen um ihre Bank und lauschten begierig ihrem Bericht vom Wochenende. In den meisten Fällen handelte es sich dabei um eine geschickte Umgestaltung dessen, was Serena, Violas acht Jahre ältere Schwester, ihr selbst tags zuvor erzählt hatte. Viola machte sich zur Protagonistin dieser Erlebnisse und verstand es, sie mit meist glatt erfundenen, obszönen Details auszuschmücken, die in den Ohren ihrer Klassenkameradinnen geheimnisvoll und erregend klangen. Minutiös, mit geradezu psychedelischer Erleuchtung, beschrieb sie Lokale, die sie niemals betreten hatte, und erging sich in ausschweifender Schilderung des draufgängerischen Lächelns, mit dem ihr der Mann an der Bar einen Cuba Libre gemixt hatte.
Meistens landete sie dann mit dem Barmann im Bett oder in irgendeinem Hinterzimmer des Lokals, zwischen Bierfässern und Wodkakisten, wo er sie dann von hinten nahm und ihr dabei, um sie am Schreien zu hindern, den Mund zuhalten musste.
Viola Bai wusste, wie eine Geschichte gebaut sein musste. Sie wusste, dass die Faszination einer Story in einem einzigen präzise dargestellten Detail stecken konnte, beherrschte es, Spannung aufzubauen, und sie hatte ein Gefühl für das richtige Timing, sodass es genau dann zur Stunde läutete, wenn der Barmann gerade mit dem Reißverschluss ihrer Markenjeans beschäftigt war. Ihr treues Publikum musste sich zerstreuen, langsam, mit vor Neid und Scham geröteten Wangen. Viola ließ sich zwar das Versprechen abringen, dass sie in der kleinen Pause weitererzählen würde, war aber zu intelligent, um sich daran zu halten. Es endete immer damit, dass sie die Angelegenheit mit einer Grimasse ihres perfekt geformten Mundes abtat, als wenn das, was sie da erlebt hatte, gar nichts Besonderes wäre. Also nicht mehr als eine beliebige Episode ihres wahnsinnig aufregenden Lebens, mit dem sie ihnen allen um Lichtjahre voraus war.
Mit Sex hatte sie tatsächlich schon Erfahrung, und auch mit einigen der Drogen, die sie bei allen Gelegenheiten gern aufzählte, war aber nur mit einem einzigen Jungen zusammen gewesen, und das auch nur ein einziges Mal. In den Ferien am Meer war es passiert, und er war ein Freund ihrer Schwester, der an jenem Abend zu viel geraucht und getrunken hatte, um sich noch darüber im Klaren zu sein, dass ein dreizehnjähriges Mädchen für gewisse Dinge einfach noch zu jung war. Hastig hatte er sie gebumst, draußen auf der Straße, von einer Mülltonne verborgen. Während sie danach, ohne sich anzuschauen,
zu den anderen zurückgingen, nahm Viola seine Hand. Was soll das?, sagte er nur, indem er sich frei machte. Und während Viola die Backen kribbelten und sie noch seine Wärme zwischen den Schenkeln spürte, kam sie sich ganz verlassen vor. An den folgenden Tagen wechselte der Junge kein Wort mehr mit ihr, und als sich Viola ihrer Schwester
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