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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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möchtest du jetzt ein Bonbon?«, fragte Viola.

    Alice überlegte.
    Wenn ich Ja sage - wer weiß, was sie mir dann zu essen geben.
    Und wenn ich Nein sage, wird Viola vielleicht sauer, und dann werde ich auch zu den Jungen in die Umkleidekabine geschleift.
    So saß sie nur da und schwieg wie eine dumme Gans.
    »Was ist nun? So schwer ist die Frage doch auch wieder nicht«, drängte Viola. Dann griff sie in ihre Tasche und holte eine Handvoll Fruchtgummis hervor.
    »Ihr dahinten, welchen möchtet ihr?«, fragte sie.
    Giulia Mirandi trat zu Viola und schaute sich die Süßigkeiten auf deren Handfläche an, während Viola unverwandt Alice anstarrte, die spürte, dass ihr Körper sich unter diesem Blick krümmte und zusammenrollte wie die Seite einer Zeitung, die im Kamin verbrennt.
    »Es gibt Orange, Himbeere, Heidelbeere, Erdbeere und Pfirsich«, sagte Giulia. Unbemerkt von Viola warf sie Alice einen flüchtigen, scheuen Blick zu.
    »Für mich Himbeere«, sagte Federica.
    »Und ich nehme Pfirsich«, rief Giada.
    Giulia warf ihnen die Fruchtgummis zu und wickelte ihren mit Orangengeschmack aus, steckte ihn sich in den Mund und trat einen Schritt zurück, um Viola wieder die Bühne zu überlassen.
    »Jetzt sind noch Heidelbeere und Erdbeere übrig. Möchtest du nun oder nicht?«
    Vielleicht will sie mir wirklich nur ein Bonbon geben, dachte Alice.
    Vielleicht wollen sie nur sehen, ob ich Angst habe oder nicht.

    »Dann nehme ich Erdbeere«, sagte sie leise.
    »Ach herrje, das ist auch meine Lieblingssorte«, murmelte Viola. Ihr bedauernder Tonfall klang schrecklich unecht. »Aber dir überlasse ich ihn gern.«
    Sie wickelte das Erdbeerfruchtgummi aus und ließ das Papier zu Boden fallen. Alice streckte die Hand aus, um es in Empfang zu nehmen.
    »Warte noch einen Moment«, sagte Viola da, »nicht so gierig.«
    Sie bückte sich und zog das Gummibonbon, das sie zwischen Daumen und Zeigefinger hielt, über den verdreckten Boden der Umkleidekabine. Mit gebeugten Knien fuhr sie so die ganze Wand links von Alice entlang, direkt an der Kante, wo sich der Schmutz zu Knäueln aus Staub und Haaren verdichtet hatte.
    Giada und Federica machten sich fast in die Hose vor Lachen, während sich Giulia nervös auf die Lippen biss. Die anderen Mädchen hatten alle begriffen, was gespielt wurde, hatten die Kabine verlassen und die Tür hinter sich geschlossen.
    Am Ende der Wand angekommen, trat Viola zu dem Waschbecken, an dem sich die Mädchen nach der Sportstunde die Achselhöhlen und das Gesicht wuschen, und nahm mit dem Bonbon den ganzen weißlichen Schmutz auf, der sich an der Innenseite des Beckens festgesetzt hatte.
    Dann kehrte sie zu Alice zurück und hielt ihr diesen ekligen Klumpen vor die Nase.
    »Hier, nimm«, sagte sie. »Erdbeergeschmack, wie du verlangt hast.«
    Dabei lachte sie nicht. Sie machte die ernste, entschlossene Miene eines Menschen, der sich gezwungen sieht, etwas zu tun, was schmerzlich, aber unbedingt notwendig ist.

    Alice schüttelte den Kopf und wich noch einen Schritt weiter zur Wand zurück.
    »Was soll das? Jetzt willst du es plötzlich nicht mehr?«, fragte Viola.
    »Ja, was soll das? Du wolltest das Bonbon haben, und jetzt isst du es auch«, mischte sich Federica ein.
    Alice schluckte.
    »Und wenn ich es nicht tue?«, fand sie den Mut zu fragen.
    »Wenn du es nicht isst, hast du die Folgen selbst zu verantworten«, antwortete Viola geheimnisvoll.
    »Welche Folgen?«
    »Das weiß man nicht. Die Folgen kennt man vorher nie.«
    Sie schleppen mich in die Jungenkabine, dachte Alice. Oder sie ziehen mich aus und verstecken meine Kleider.
    Fast unmerklich zitternd, streckte sie die Hand zu Viola aus, die ihr das schmutzige Bonbon auf die Handfläche fallen ließ. Langsam führte sie es zum Mund.
    Die anderen waren verstummt und schienen zu denken: Das macht sie nicht im Ernst. Violas Miene war ungerührt.
    Alice legte sich das Fruchtgummi auf die Zunge und spürte, wie sich ihr Speichel um die Haare daran sammelte. Zwei Kaubewegungen, und etwas knirschte zwischen ihren Zähnen.
    Jetzt nur nicht kotzen, dachte sie. Du darfst bloß nicht kotzen.
    Einen säuerlichen Schwall Magensäure niederkämpfend, schluckte sie den Klumpen. Sie spürte, dass er mühsam und schwer wie ein Stein durch ihre Speiseröhre sank.
    Die Neonleuchten summten, und die Stimmen ihrer Mitschüler drangen als eine Geräuschkulisse aus Lachen und Rufen aus der Sporthalle zu ihr in die Kabine. Die Luft im
Kellergeschoss war stickig, und

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