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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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anvertraute, lachte die nur über ihre Einfalt und sagte: Stell dich nicht so an. Was hast du denn erwartet?
    Violas treues Publikum setzte sich zusammen aus Giada Savarino, Federica Mazzoldi und Giulia Mirandi. Zusammen bildeten sie eine fest geschlossene, gnadenlose Front, die Vier-Zicken-Phalanx, wie sie auch von einigen Jungen an der Schule genannt wurde. Viola hatte die Mädchen persönlich ausgewählt und von jeder Einzelnen zuvor ein kleines Opfer verlangt, denn ihre Freundschaft musste man sich schon verdienen. Sie war es, die allein bestimmte, ob man dazugehörte oder nicht, und ihre Entscheidungen waren schwer nachzuvollziehen und unanfechtbar.
    Von ihrem Platz, zwei Reihen weiter hinten, konnte Alice nur heimlich Viola beobachten und musste sich mit abgerissenen Sätzen und Bruchstücken ihrer Erzählungen zufriedengeben. Aber abends, allein in ihrem Zimmer, schwelgte sie in Violas Geschichten.
    Vor diesem Mittwochmorgen hatte Viola noch nie das Wort an sie gerichtet, und was nun kam, war eine Art Initiationsritus, der ordentlich, mit allem was dazugehörte, vollzogen wurde. Keine der anderen wusste genau, ob Viola improvisierte oder ihre Folter genau geplant hatte, sie waren sich aber darin einig, dass sie wieder einmal absolut genial war.
    Alice hasste den Umkleideraum, wo ihre perfekt gebauten
Klassenkameradinnen die ganze Zeit in BH und Slip herumturnten, um sich ausgiebig von den anderen beneiden zu lassen. In unnatürlichen, angespannten Posen nach dem Motto: Bauch rein, Busen raus standen sie vor dem zersprungenen Spiegel, der fast eine ganze Wand einnahm, stießen die Luft aus und sagten Schaut mal her , indem sie mit den Händen ihre Taillen und Becken maßen, die unmöglich besser proportioniert und verführerischer hätten sein können.
    Mittwochs ging Alice immer mit kurzen Hosen unter der Jeans aus dem Haus, damit sie sich später nicht umzuziehen brauchte. Die anderen bedachten sie mit abschätzigen Blicken und stellten sich wohl das traurige Bild vor, das sich unter ihren Kleidern verbarg. Und wenn sie sich dann den Pulli auszog, wandte sie ihren Klassenkameradinnen den Rücken zu, damit sie ihren Bauch nicht sahen.
    Nachdem sie sich die Sportschuhe angezogen hatte, schob sie die Straßenschuhe immer parallel nebeneinander an die Wand und legte auch ihre Jeans ordentlich zusammen, während die Kleider der anderen Schülerinnen kreuz und quer von den Holzbänken herunterhingen und ihre Schuhe durcheinander, mit den Sohlen nach oben, auf dem Fußboden lagen, weil sie nur achtlos mit den Füßen abgestreift worden waren.
    »Alice, naschst du eigentlich gerne?«, fragte Viola sie plötzlich.
    Alice brauchte einige Sekunden, um zu begreifen, dass Viola Bai tatsächlich sie angesprochen hatte. Schließlich hatte sie geglaubt, für deren Augen unsichtbar zu sein. Der Knoten, den sie gerade binden wollte, löste sich unter ihren Fingern.
    »Ich?«, fragte sie, indem sie sich verlegen umblickte.

    »Wer heißt denn hier sonst noch Alice?«, fragte Viola zurück.
    Die anderen kicherten.
    »Nein. Nicht besonders.«
    Viola erhob sich von der Bank und trat näher. Alice spürte den Blick ihrer wunderschönen Augen, die halb in dem Schatten lagen, den der Pony auf ihr Gesicht warf.
    »Aber Bonbons magst du doch sicher, oder nicht?«, fuhr Viola mit schmeichelnder Stimme fort.
    »Ja, schon, es geht so.«
    Alice biss sich auf die Unterlippe und ärgerte sich über ihre verdammte Unsicherheit. Den knöchernen Rücken an die Wand gelehnt, saß sie da. Ein Zucken ging durch ihr gesundes Bein. Das andere rührte sich nicht, wie immer.
    »Was soll das heißen: geht so? Bonbons mag doch jeder. Stimmt’s, Mädels?«, wandte sich Viola an die drei Freundinnen, ohne sich zu ihnen umzudrehen.
    »Hm, hm, allen«, bestätigten diese. In den Augen von Federica Mazzoldi, die sie vom hinteren Teil der Kabine ansah, nahm Alice eine eigenartige Anspannung wahr.
    »Ja, eigentlich mag ich Bonbons«, verbesserte sie sich. Sie verspürte Angst, noch bevor sie wusste, wovor.
    In der sechsten Klasse hatten die vier Zicken Alessandra Mirano gepackt und in den Jungenumkleideraum geschleift. Dort wurde sie eingesperrt, während zwei Jungen vor ihren Augen ihren Schwanz herausholten. Vom Gang aus hatte Alice die Anfeuerungsrufe und das schallende Gelächter der vier Peinigerinnen hören können. Alessandra war dann hängengeblieben und auf irgendeiner Kosmetikschule gelandet.
    »Na, siehst du. Das habe ich mir schon gedacht. Und

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