Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
die Fenster waren zu klein, um sie zirkulieren zu lassen.
Viola sah Alice mit ernster Miene an. Dann nickte sie. Eine Kopfbewegung, ohne zu lächeln, die bedeutete: So, jetzt können wir gehen. Sie wandte sich ab, und vorbei an den anderen dreien, die sie keines Blickes würdigte, verließ sie den Umkleideraum.
6
Es gab etwas, das man über Denis wissen musste. Etwas Wichtiges, ja mehr noch, für Denis selbst das einzig Wichtige. Und deswegen hatte er auch noch nie jemandem davon erzählt.
Sein Geheimnis hatte einen schrecklichen Namen, der sich wie eine Plastikplane über all seine Gedanken legte und ihnen die Luft zum Atmen nahm. Es war immer da, dort in seinem Kopf, wie ein gefälltes Urteil, dessen Folgen er früher oder später würde tragen müssen.
Als er zehn war, hatte sein Klavierlehrer ihm die Finger über die gesamte D-Dur-Tonleiter geführt und ihm dazu seine warme Handfläche auf den Handrücken gelegt, Denis hatte der Atem gestockt. Er hatte sich vorbeugen müssen, um mit dem Oberkörper die Konturen der Erektion zu verbergen, die in seiner Jogginghose explodiert war. Sein ganzes Leben lang würde er diesen Moment als eine Erfahrung echter Liebe in Erinnerung behalten, würde er tastend jeden Winkel seines Daseins absuchen nach der umfassenden Wärme, die er bei dieser Berührung empfunden hatte.
Immer wenn ihn diese Erinnerungen überkamen, brach ihm an Hals und Händen der Schweiß aus, und dann schloss Denis sich im Badezimmer ein und masturbierte wütend, rittlings auf der Toilettenschüssel sitzend. Nur einen kurzen Moment währte die Lust und strahlte nicht weiter als wenige Zentimeter um sein Geschlecht herum aus. Die Schuldgefühle hingegen überfielen ihn von oben wie eine Dusche schmutzigen Wassers, krochen ihm unter die Haut und nisteten sich in seinen Eingeweiden ein, ließen langsam alles verfaulen, wie einsickerndes Wasser, das die Mauern alter Häuser zersetzt.
Während des Biologieunterrichts, im Labor im Kellergeschoss, sah Denis zu, wie Mattia ein Stück Fleisch zerteilte, um die weißen von den roten Fasern zu trennen. Gern hätte er ihm die Hände gestreichelt, um herauszufinden, ob sich dieses hinderliche Lustgerinnsel, das sich in seinem Kopf gebildet hatte, allein schon durch die Berührung des Mitschülers, in den er sich verliebt hatte, wirklich wie schmelzende Butter auflösen würde.
Sie saßen nebeneinander, hatten beide die Unterarme auf dem Arbeitstisch liegen. Durch eine Reihe von transparenten Gegenständen, Erlenmeyerkolben und Reagenzgläsern, die das Licht ablenkten und alles verzerrten, was sich jenseits dieser Linie befand, waren sie vom Rest der Klasse getrennt.
Mattia war so sehr in seine Arbeit versunken, dass er den Blick seit mindestens einer halben Stunde nicht mehr gehoben hatte. Obwohl er Biologie eigentlich nicht mochte, erledigte er die Aufgabe mit der gleichen Gewissenhaftigkeit, die er auch in allen anderen Fächern zeigte. Die organische Materie, die so empfindlich war und so voller Unvollkommenheiten, blieb ihm verschlossen, und so rief der Geruch von Lebendigem, den dieses Stück schwabbeliges Fleisch sich
zu verströmen herausnahm, bei ihm nicht mehr als einen leichten Ekel hervor.
Denis beobachtete, wie er mit der Pinzette eine dünne weiße Faser aus dem Fleisch zog und auf dem Objektträger platzierte. Er legte die Augen ans Mikroskop und stellte scharf. Jede Beobachtung hielt er in allen Details in einem Rechenheft fest und fertigte dann noch eine Skizze des vergrößerten Bildes an.
Denis nahm einen tiefen Atemzug und fand endlich den Mut, wie bei einem Sprung ins kalte Wasser, die Sache anzusprechen.
»Matti, hast du eigentlich ein Geheimnis?«, fragte er den Freund.
Mattia schien ihn gar nicht gehört zu haben, doch das Seziermesser, mit dem er gerade ein weiteres Stück Muskel zerteilte, entglitt ihm und fiel klimpernd zu Boden. Mit einer verlangsamten Bewegung hob er es auf.
Denis wartete einige Sekunden, während Mattia wie erstarrt dasaß, das Messer ein paar Zentimeter über dem Stück Fleisch haltend.
»Mir kannst du es ruhig anvertrauen, dein Geheimnis«, fuhr er dann fort. Nun, da er sich überwunden und einen Schritt in die faszinierende innere Welt seines Mitschülers vorgewagt hatte, pulsierte ihm vor Erregung das Blut in den Wangen, und er dachte gar nicht daran, klaglos zurückzuweichen.
»Ich hab übrigens eines«, sagte er.
Mit einem entschlossenen Schnitt durchtrennte Mattia das Muskelgewebe, als wollte er dem
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