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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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toten Fleisch nochmals den Garaus machen.
    »Ich hab kein Geheimnis«, antwortete er leise.

    »Das glaub ich nicht. Erzähl es mir, dann erfährst du auch meines«, ließ Denis nicht locker und rückte mit dem Hocker näher an Mattia heran, der sich sichtlich versteifte. Mit ausdrucksloser Miene starrte er auf den Fetzen Fleisch vor ihm.
    »Wir müssen das Experiment fertig bekommen«, sagte er mit monotoner Stimme, »sonst können wir das Arbeitsblatt nicht ausfüllen.«
    »Was interessiert mich das Arbeitsblatt. Ich will wissen, was du mit deinen Händen angestellt hast.«
    Mattia zählte drei Atemzüge. Durch die Luft wirbelten superleichte Äthanolmoleküle, und einige drangen in seine Nase ein. Er nahm sie als ein angenehmes Kribbeln wahr, das die Nasenscheidewand bis zu einer Stelle zwischen den Augen hinaufwanderte.
    »Du willst also wirklich wissen, was ich mit meinen Händen gemacht habe?«, fragte er, indem er sich zu Denis umdrehte, jedoch den Blick auf die hinter ihm aufgereihten Gefäße richtete, Dutzende mit Formalin gefüllte Gläser, in denen Föten und amputierte Gliedmaßen verschiedener Tierarten konserviert waren.
    Denis nickte angespannt.
    »Dann schau es dir an«, sagte Mattia.
    Er nahm das Seziermesser fest in die Hand, stach es in die Vertiefung zwischen Zeige- und Mittelfinger und zog bis zum Handgelenk durch.

7
    Am Donnerstag hatte Viola draußen vor dem Tor gewartet. Mit gesenktem Kopf war Alice fast schon an ihr vorbei, da hielt Viola sie am Ärmel fest. Alice zuckte zusammen, als sie mit ihrem Namen gerufen wurde, denn sofort fiel ihr das Fruchtgummi wieder ein, und vom Ekel wurde ihr schwindlig. Hatten die vier Zicken jemanden aufs Korn genommen, ließen sie ihn nicht mehr in Frieden. Die Mathekuh will mich heute abhören, sagte Viola. Ich hab keinen blassen Schimmer und keine Lust, überhaupt reinzugehen. Alice schaute sie irritiert an. Feindselig kam ihr Viola nicht vor, aber sie traute ihr nicht. Sie versuchte, sie stehen zu lassen. Aber Viola ließ nicht locker: Komm, wir drehen’ne Runde. Wir beide? Ja, du und ich. Alice schaute sich erschrocken um. Los, beweg dich, man muss uns hier ja nicht unbedingt zusammen sehen, drängte Viola. Aber …, versuchte Alice einzuwenden. Doch Viola ließ sie gar nicht ausreden und packte sie noch fester am Ärmel, und so lief sie, humpelnd Schritt haltend, neben ihr her zur Bushaltestelle.

    Nebeneinander nahmen sie Platz, wobei Alice dicht ans Fenster rückte, um Viola genügend Raum zu geben, und dabei erwartete sie jeden Augenblick, dass etwas Schreckliches passieren würde. Viola schien allerdings bester Laune. Sie nahm einen Lippenstift aus der Handtasche, zog sich die Lippen nach und fragte Alice dann, ob sie auch wolle. Die schüttelte den Kopf. Währenddessen entfernten sie sich immer weiter von der Schule. Mein Vater bringt mich um, murmelte sie. Ihre Beine zitterten. Ach Quatsch, entgegnete Viola, zeig mir mal dein Entschuldigungsheft. Und indem sie sich die Unterschrift von Alices Vater genau ansah, erklärte sie: Die ist doch ganz einfach, ich mach das für dich. Dann holte sie ihr eigenes Heft hervor und zeigte Alice alle Unterschriften, die sie gefälscht hatte, wenn sie wieder mal keine Lust hatte, in den Unterricht zu gehen. Und außerdem haben wir morgen die Follini in der ersten, fügte sie hinzu, die sieht sowieso nichts mehr.
    Viola redete weiter über die Schule, erzählte, wie wenig sie Mathe interessiere und dass sie später ohnehin Jura studieren würde. Alice fiel es schwer, ihr zuzuhören. Ständig dachte sie daran, was sich tags zuvor in der Umkleidekabine zugetragen hatte. Sie konnte sich auf diese plötzliche Vertraulichkeit keinen Reim machen.
    An der Piazza stiegen sie aus und spazierten unter den Arkaden entlang. Viola betrat eine Boutique mit neonbeleuchtetem Schaufenster, in die Alice noch nie einen Fuß gesetzt hatte. Sie gab sich ganz so, als wären sie schon ein Leben lang Freundinnen, und beharrte darauf, dass Alice die Klamotten anprobierte, die sie ihr ausgesucht hatte. Sie fragte Alice nach ihrer Größe, und die schämte sich, achtunddreißig sagen zu müssen. Währenddessen beobachteten die Verkäuferinnen sie
misstrauisch, doch Viola gab nichts darauf. Sie suchte ihnen beiden etwas aus, und sie zogen sich in derselben Kabine um, wobei Alice heimlich ihren Körper mit dem der neuen Freundin verglich. Schließlich verließen sie den Laden, ohne etwas gekauft zu haben.
    Sie gingen in eine Bar, wo Viola

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