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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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Fenster.

8
    Mattia schaute hinaus durch die milchige Glasscheibe der Halle. Es war ein heller Tag, ein Vorbote des Frühlings. Der stürmische Wind, der in der Nacht die Luft gereinigt hatte, schien auch die Zeit anzutreiben, sodass sie schneller verging. Mattia zählte die Hausdächer, die er von seinem Platz aus sehen konnte, und versuchte abzuschätzen, wie weit der Horizont entfernt war.
    Denis stand an seiner Seite, beobachtete ihn verstohlen und bemühte sich, seine Gedanken zu erraten. Über den Vorfall im Biosaal hatten sie kein Wort verloren. Überhaupt unterhielten sie sich wenig, verbrachten aber viel Zeit miteinander, ein jeder in seine eigenen Abgründe vertieft, doch in dem Gefühl, dass der andere einen vor dem Absturz bewahrte, ohne dass es dazu vieler Worte bedurft hätte.
    »Ciao«, hörte Mattia eine Stimme unangenehm nahe.
    In der Fensterscheibe spiegelten sich die Umrisse zweier Mädchen, die Hand in Hand hinter ihm standen. Er drehte sich um.

    Denis blickte ihn verwundert an, während die beiden auf etwas zu warten schienen.
    »Ciao«, erwiderte Mattia leise. Er senkte den Kopf, um sich vor dem stechenden Blick zu schützen, den eines der beiden Mädchen ihm zuwarf. Sie sagte:
    »Ich bin Viola, und das ist Alice. Wir gehen in die 10b.«
    Mattia nickte, während Denis nur mit offenem Mund dastand. Keiner der beiden brachte ein Wort heraus.
    »Was ist los mit euch?«, fragte Viola forsch. »Wollt ihr euch nicht vorstellen?«
    Langsam, so als müsse er sich selbst erst erinnern, nannte Mattia seinen Namen und reichte Viola zaghaft seine unverbundene Hand. Viola schüttelte sie entschlossen. Das andere Mädchen streifte ihn nur mit einem Blick, lächelte dabei, und schaute dann wieder in eine andere Richtung.
    Nach Mattia stellte sich Denis ebenso linkisch vor.
    »Wir wollten euch zu meiner Geburtstagsfete übernächsten Samstag einladen«, kam Viola zur Sache.
    Denis suchte wieder den Blick seines Kameraden, doch der beobachtete, während er antwortete, das angedeutete, schüchterne Lächeln von Alice. Ihre Lippen sind so schmal und klar abgesetzt, als wäre ihr Mund wie von einem Skalpell gezogen, dachte Mattia.
    »Und wieso«, fragte er.
    Viola bedachte ihn mit einem schiefen Blick und schaute dann zu Alice, mit einer Miene, in der zu lesen war: Ich hab dir ja gesagt, der spinnt.
    »Was meinst du mit ›wieso‹? Ganz einfach, weil wir Lust haben, euch einzuladen.
    »Danke, aber da kann ich nicht«, antwortete Mattia.
    Erleichtert beeilte Denis sich, ihm beizupflichten.

    Viola beachtete ihn nicht weiter und wandte sich wieder dem Jungen mit der verbundenen Hand zu.
    »Ach nein? Lass mal hören, was hast du denn für Termine, am Samstagabend?«, provozierte sie ihn. »Musst du mit deinem Freund am Computer spielen? Oder hast du vor, dir noch mal die Pulsadern aufzuschneiden?«
    Ein Schauer der Angst und der Erregung durchlief Viola, als sie diesen letzten Satz sagte. Alice drückte ihre Hand noch etwas fester, um ihr zu verstehen zu geben, dass sie nicht zu weit gehen solle.
    Mattia überlegte, dass er die Anzahl der Dächer vergessen hatte, und es bis zum Klingeln nicht mehr schaffen würde, sie noch mal zu zählen.
    »Ich mag keine Feten«, erklärte er.
    Viola zwang sich zu einem künstlichen Lachen mit einer ganzen Reihe hoher, schneidender Hi-His.
    »Du bist wirklich ein seltsamer Vogel, jeder mag Feten«,spottete sie, indem sie sich mit dem Zeigefinger zweimal gegen die rechte Schläfe tippte.
    Alice hatte ihre Hand von der Violas gelöst und hielt sie nun, ohne es zu merken, an den Bauch.
    »Ich aber nicht«, wiederholte Mattia noch einmal mit Nachdruck.
    Viola schaute ihn verächtlich an, aber er hielt ihrem Blick mit ausdrucksloser Miene stand. Alice war einen Schritt zurückgewichen. Gerade als Viola den Mund öffnete, um etwas zu erwidern, läutete es zur Stunde. Damit war für Mattia die Sache erledigt. Auf der Stelle drehte er sich um und hielt entschlossen auf die Treppe zu, und in seinem Fahrwasser folgte ihm Denis.

9
    Seit sie in die Dienste der Familie Della Rocca getreten war, hatte Soledad Galienas nur ein einziges Mal ihre Pflichten vernachlässigt. Vier Jahre lag das zurück, und es war an einem regnerischen Abend geschehen, als die Della Roccas bei Freunden zum Essen eingeladen waren.
    In Soledads Kleiderschrank fand sich nur schwarze Kleidung, einschließlich der Unterwäsche. So häufig hatte sich die Trauernde den Tod ihres Mannes bei einem Arbeitsunfall ausgemalt,

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