Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
dass sie schließlich selbst daran glaubte. Sie sah ihn vor sich, wie er oben auf dem Gerüst stand, zwanzig Meter über dem Boden, mit einer Zigarette zwischen den Zähnen, und eine Schicht Mörtel glatt strich, um eine weitere Reihe Backsteine aufzusetzen, sah, wie er über ein Werkzeug stolperte, das jemand auf der Bohle vergessen hatte, oder in einem aufgerollten Seil hängen blieb, vielleicht in jenem Seil, mit dem er sich eigentlich hätte sichern müssen und das er achtlos dorthin geworfen hatte, weil so eine Sicherung doch nur was für Anfänger war. Sie
stellte sich vor, wie er wankte, das Gleichgewicht verlor und, ohne einen Schrei von sich zu geben, abstürzte. Dann vergrößerte sich der Bildausschnitt und zeigte ihren fallenden Mann, einen dunklen Punkt, der vor dem Hintergrund eines weißen Himmels mit den Armen ruderte. Schließlich endete ihre künstliche Erinnerung mit einem Blick von oben. Der Körper des Ehemannes auf dem staubigen Boden der Baustelle. Leblos und zweidimensional, mit noch geöffneten Augen lag er da, ausgestreckt in einer dunklen Blutlache, die sich unter seinem Rücken ausbreitete.
Sich die Sache so vorzustellen rief einen wohlig ängstlichen Schauder zwischen Kehle und Nase bei ihr hervor, und wenn sie nur lange genug dabei verweilte, gelang es ihr sogar, ein paar Tränen hervorzupressen, die sie allerdings nur um sich selbst weinte.
Die Wahrheit war nämlich, dass ihr Mann sie verlassen hatte. Eines Morgens war er fort, wahrscheinlich um noch mal neu anzufangen, mit irgendeiner Frau, von der sie noch nicht einmal den Namen kannte. Sie hatte nie mehr etwas von ihm gehört. Als sie nach Italien kam, dachte sie sich diese Sache mit ihrer Witwenschaft aus, um sich mit einer Vergangenheit auszustatten, von der man erzählen konnte, denn über ihre wahre Geschichte wollte sie kein Wort mehr verlieren. Die Trauerkleidung und die Vorstellung, dass andere in ihrem Blick die Spuren eines Schicksalsschlages, eines nie überwundenen Verlustes auszumachen meinten, gaben ihr Sicherheit. Mit Würde trug Soledad ihre Trauer, und bis zu diesem Abend hatte sie auch niemals das Andenken ihres Gatten verraten.
Samstags ging sie um sechs in die Abendmesse, um stets rechtzeitig zum Essen wieder zurück zu sein. Seit Wochen war
Ernesto schon hinter ihr her. Kam sie aus der Messe, stand er wartend auf dem Kirchplatz und bot ihr mit dem immer gleichen feierlichen Gehabe an, sie nach Hause zu begleiten. Soledad wand sich in ihrem schwarzen Kleid, willigte aber schließlich ein. Auf dem Weg erzählte er ihr von der Zeit, als er noch bei der Post seinen Dienst tat, und beklagte die langen Abende allein zu Hause, mit den vielen Jahren auf dem Buckel und ebenso vielen traurigen Erinnerungen, mit denen zurechtzukommen sei. Ernesto war älter als Soledad, und ein Tumor der Bauchspeicheldrüse hatte ihm die Ehefrau tatsächlich genommen.
Gesittet, sie eingehängt an seinem Arm, spazierten sie dahin. Da es regnete, machte Ernesto ihr unter seinem Schirm Platz und holte sich einen nassen Kopf und Mantel, damit sie trocken bleiben konnte. Er lobte ihr Italienisch, das Woche für Woche noch besser werde, und Soledad lachte und gab sich verlegen.
Es war eine Ungeschicklichkeit, eine verfehlte Abstimmung ihrer Gesten, die dazu führte, dass sie sich nicht wie üblich freundschaftlich mit züchtigen Küssen auf die Wangen verabschiedeten, sondern ihre Münder sich vor der Haustür der Familie Della Rocca kurz berührten. Verzeihung, murmelte Ernesto, beugte sich dann erneut zu ihren Lippen vor, und Soledad spürte, dass all der Staub, der sich in den langen Jahren auf ihrem Herzen abgelagert hatte, aufgewirbelt wurde und ihr in die Augen flog.
Sie war es, die ihn fragte, ob er nicht mit hinaufkommen wolle. Er müsse aber ein, zwei Stunden in ihrem Zimmer warten, bis sie Alice zu essen gemacht und sie ins Bett geschickt habe. Die Della Roccas würden in Kürze das Haus verlassen und erst spät wieder heimkehren.
Ernesto blickte dankbar auf zum Himmel, der selbst einem Menschen in seinem Alter nicht alle Freuden verwehrte. So schlichen sie sich ins Haus. Soledad hielt ihren Geliebten wie einen Jungen in der Pubertät an der Hand und führte ihn auf ihr Zimmer, und indem sie einen Finger an die Lippen legte, gebot sie ihm, leise zu warten. Dann bereitete sie in aller Eile das Abendessen für Alice zu, beobachtete sie, wie sie viel zu langsam aß, und sagte dann: Du siehst heute Abend aber sehr müde aus, am
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