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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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normal?«
    Es entstand eine Pause. Mattia konnte sich deutlich vorstellen,
wie seine Mutter den Kopf schüttelte und einen Mundwinkel hochzog, wie um zu sagen: Mit dir kann man einfach nicht reden.
    »Was nicht normal ist?«, wiederholte sie langsam. »Ich fasse es nicht …«
    Mattia blieb einen Schritt zurück hinter dem Lichtkegel, der vom Wohnzimmer in die Diele fiel. Er verdrehte die Augen und folgte der Schattenlinie vom Fußboden über die Wände bis zur Decke hinauf und kam zu dem Schluss, dass das vom Licht geformte Trapez auch nur eine optische Täuschung war.
    Seine Mutter hatte die Angewohnheit, Sätze unvollendet im Raum stehen zu lassen, fast so, als entfalle ihr beim Sprechen, wie sie enden sollten. Vor Mattias geistigem Auge entstanden auf diese Weise leere Sprechblasen, und jedes Mal stellte er sich vor, wie er sie mit dem Finger durchstach und zum Platzen brachte.
    »Nicht normal ist zum Beispiel, dass er sich vor der ganzen Klasse ein Messer in die Hand gebohrt hat. Oder was meinst du? Dabei hatten wir doch geglaubt, dass diese Zeiten ein für alle Mal überstanden seien. Aber leider haben wir uns da getäuscht«, fuhr seine Mutter fort.
    Mattia erschrak nicht, als ihm klar wurde, dass sie sich über ihn unterhielten, fühlte sich nur ein wenig schuldig, weil er da ein Gespräch belauschte, das nicht für seine Ohren bestimmt war.
    »Das ist aber kein Grund, hinter seinem Rücken mit seinen Lehrern zu reden«, erwiderte sein Vater, leiser als sie. »Er ist alt genug, um hinzugezogen zu werden.«
    »Herrgott noch mal, Pietro«, stieß seine Mutter hervor. Eigentlich nannte sie ihren Mann nie beim Namen. »Darum
geht es doch gar nicht. Warum willst du das nicht verstehen? Hör doch endlich auf, ihn so zu behandeln, als wenn er …«
    Sie brach wieder ab. Wie eine elektrische Ladung lastete ihr Schweigen im Raum, und ein leichter Schlag ließ Mattias Schultern zusammenzucken.
    »Als wenn er was?«
    »Als wenn er normal wäre«, sprach seine Mutter es aus. Ihre Stimme zitterte, und Mattia fragte sich, ob sie weinte. Das tat sie häufig seit jenem Nachmittag. Meistens aus nichtigem Anlass. Manchmal weinte sie, weil das Fleisch, das sie zubereitet hatte, zäh war, oder ihr kamen die Tränen, weil die Balkonpflanzen von Schädlingen befallen waren. Egal, worum es ging, ihre Verzweiflung war immer extrem. So als wäre jede Rettung unmöglich.
    »Seine Lehrer sagen, dass er keinen Freundeskreis hat. Er redet nur mit seinem Banknachbarn und ist immer nur mit ihm zusammen. Aber du weißt auch, Jungen in seinem Alter gehen abends aus, interessieren sich für Mädchen…«
    »Glaubst du etwa, er ist …«, unterbrach sein Vater sie. »Ich meine, dass er …«
    Mattia versuchte, den Satz zu Ende zu denken, wusste aber nicht, wie.
    »Nein, das glaub ich nicht. Aber vielleicht wäre es mir lieber, es wäre nur das«, antwortete seine Mutter. »Manchmal denke ich, ein Teil von Michela ist in ihn übergegangen.«
    Sein Vater atmete tief und vernehmbar durch.
    »Du hattest versprochen, das Thema nicht mehr anzuschneiden«, sagte er leicht gereizt.
    Mattia dachte an Michela, die wie vom Erdboden verschwunden war. Aber nur den Bruchteil einer Sekunde lang. Dann ließ er sich von dem verschwommenen Bild seiner
Eltern ablenken, die er verkleinert auf der gekrümmten, geschliffenen Oberfläche des Schirmständers abgebildet sah. Mit dem Schlüssel in der Hand begann er, sich den linken Ellbogen zu kratzen. Dabei spürte er, wie das Gelenk hin und her sprang.
    »Weißt du, was mir am unheimlichsten ist?«, sagte Adele. »Diese ganzen Supernoten, die er bekommt. Ständig eine Eins oder eine Eins plus, immer der Beste in der Klasse. Für mich haben diese Noten etwas Beängstigendes.«
    Mattia hörte, wie seine Mutter die Nase hochzog. Dann noch einmal, diesmal gedämpfter, als habe sie die Nase irgendwo gegen gepresst, und er stellte sich vor, dass sein Vater sie im Arm hielt, dort drüben im Wohnzimmer.
    »Er ist fünfzehn«, sagte sein Vater. »Das ist ein brutales Alter.«
    Seine Mutter antwortete nicht, und Mattia hörte, wie dieses rhythmische Schluchzen immer weiter anschwoll, bis zu einem Höhepunkt, um sich dann langsam wieder zu beruhigen, bis schließlich Stille einkehrte.
    In diesem Moment stieß er die Tür zum Wohnzimmer auf. Seine Augen schlossen sich ein wenig, als er in den Lichtkegel trat. Zwei Schritt vor seinen Eltern, die ihn wie beim Knutschen überraschte Teenager anstarrten, blieb er stehen. In ihren

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