Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
mächtiger, fast doppelt so breit, als sie ohnehin schon waren. Alice überlegte, wie wenig Raum sie selbst doch im Vergleich zu der Klassenkameradin einnahm. Bei der Vorstellung, so dünn zu werden, dass sie gar nicht mehr zu sehen war, verspürte sie einen angenehmen Stich im Magen.
Als Mattia und Denis den Raum betraten, setzte sie sich augenblicklich gerader hin und schaute sich nervös nach
Viola um. Ihr fiel auf, dass Mattia keinen Verband mehr trug, und sie versuchte an seinem Handgelenk zu erkennen, ob eine Narbe zurückgeblieben war. Instinktiv fuhr sie mit dem Zeigefinger die Form der eigenen Narbe nach. Auch unter der Kleidung fand sie auf Anhieb die Stelle, die wie ein Regenwurm war, der auf der Haut haftete.
Verschreckt, wie eine eingekreiste Jagdbeute, schauten die beiden neuen Gäste sich um, obwohl eigentlich niemand der rund dreißig jungen Leute in dem Raum Notiz von ihnen nahm. Niemand - bis auf Alice.
Denis folgte Mattia bei allem, was er tat, bewegte sich mit, wenn er sich bewegte, schaute dahin, wo er hinschaute. Mattia trat auf Viola zu, die gerade damit beschäftigt war, ein Grüppchen Mädchen mit ihren Erlebnissen aus zweiter Hand zu beeindrucken. Er verschwendete keinen Gedanken daran, ob er diese Mädchen nicht vielleicht von der Schule her kannte, sondern stellte sich, das Geschenk in Händen steif vor der Brust haltend, hinter das Geburtstagskind. Viola drehte sich um, als sie merkte, dass die Freundinnen den Blick von ihrem unwiderstehlichen Mund abgewandt und auf einen Punkt in ihrem Rücken gerichtet hatten.
»Ach, seid ihr auch schon da?«, sagte sie unhöflich.
»Hier«, gab Mattia zur Antwort, indem er ihr das Geschenk in die Arme legte und dann ein »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag« nuschelte.
Als er sich gerade wieder abwenden wollte, kreischte Viola mit hysterisch hoher Stimme los:
»Ali, Ali, komm her. Dein Freund ist da.«
Denis hatte Mühe, den rauen Kloß hinunterzuschlucken, den er plötzlich im Hals verspürte. Eines der Mädchen kicherte einer anderen ins Ohr.
Alice stand vom Sofa auf. Bemüht, ihr Hinken zu verbergen, legte sie die vier Schritte zurück, die sie von dem Grüppchen trennten, hatte dabei aber das Gefühl, dass alle nur auf ihre Beine starrten.
Mit einem flüchtigen Lächeln begrüßte sie erst Denis und dann Mattia, indem sie den Kopf senkte und mit kaum vernehmbarer Stimme Ciao sagte. Ciao , antwortete Mattia, und dabei zuckten seine Augenbrauen, wodurch er Viola nur noch spastischer vorkam.
Ein langes Schweigen folgte, das nur sie brechen konnte.
»Ich weiß jetzt, wo meine Schwester ihre Tabletten aufbewahrt«, erklärte Viola, übers ganze Gesicht strahlend.
Wow, antwortete ihr der Chor der Mädchen aufgeregt.
»Na, wollt ihr auch?«
Sie hatte die Frage an Mattia gerichtet, in der Überzeugung, dass er keine Ahnung hatte, wovon sie überhaupt sprach. Und sie hatte recht.
»Auf Mädels, kommt mit, wir holen sie«, fuhr sie fort. »Du auch, Ali.«
Sie ergriff Alices Arm, und, fast übereinander stolpernd, verschwanden die fünf Mädchen im Flur.
Denis stand wieder mit Mattia allein da, und sein Herzschlag kehrte zu einer normalen Frequenz zurück. Zusammen gingen sie zu dem Tisch hinüber, auf dem die Getränke aufgebaut waren.
»Die haben Whiskey«, bemerkte Denis überrascht und auch ein wenig entrüstet. »Und Wodka.«
Mattia antwortete nicht, griff sich einen Plastikbecher und füllte ihn bis zum Rand mit Cola, wobei er versuchte, jener Grenze so nahe wie möglich zu kommen, an der die Oberflächenspannung der Flüssigkeit ein Überschwappen gerade
noch verhinderte. Dann stellte er den Becher auf den Tisch. Denis goss sich einen Whiskey ein, während er sich verstohlen umschaute, und hoffte dabei insgeheim, den Freund damit beeindrucken zu können. Aber der bekam es überhaupt nicht mit.
Zwei Wände entfernt, im Zimmer von Violas Schwester, hatten die Mädchen, auf dem Bett sitzend, Alice in die Mitte genommen, um sie über das weitere Vorgehen aufzuklären.
»Nimm ihn nicht in den Mund. Auch wenn er dich darum bittet, verstanden«, schärfte ihr Giada Savarino ein. »Beim ersten Mal darfst du ihm allerhöchstens einen runterholen.«
Alice lächelte nervös und war sich nicht sicher, ob Giada das ernst meinte oder sie auf den Arm nehmen wollte.
»Du gehst jetzt wieder rüber und unterhältst dich mit ihm«, erklärte ihr Viola, die schon alles bis ins Kleinste geplant hatte. »Und dann lässt du dir einen Vorwand
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