Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
zusammen einkaufen, obwohl das dein freier Tag ist?«
»Aber gewiss, mein Schatz«, versicherte ihr Soledad. Einen Moment lang kam sie sich nützlich, wichtig vor, und in dieser Gefühlslage erkannte sie das kleine Mädchen wieder, das sie großgezogen hatte.
»Da ist noch was… Dorthin müsstest du mich begleiten.«
»Begleiten? Wohin denn?«
Alice zögerte einen Moment.
»Zum Tätowieren«, sagte sie dann in einem Atemzug.
»Oh, mi amorcito «, seufzte Soledad leicht enttäuscht. »Dein Vater ist doch dagegen. Das weißt du.«
»Wir brauchen es ihm ja nicht zu sagen. So wird er es nie erfahren«, bettelte Alice mit weinerlicher Stimme.
Soledad schüttelte den Kopf.
»Ach, Sol, bitte«, flehte sie. »Allein kann ich das nicht machen. Dazu brauche ich die Zustimmung der Eltern.«
»Und? Wie soll ich dir dann helfen?«
»Du gibst dich einfach als meine Mutter aus. Du brauchst auch gar nichts zu sagen, nur ein Blatt zu unterschreiben.«
»Aber das geht doch nicht, mein Schatz, das geht unmöglich. Dein Vater würde mich sofort vor die Tür setzen.«
Mit einem Male wurde Alices Miene ernster, und sie schaute Soledad direkt in die Augen.
»Das bleibt ja unser Geheimnis, Sol.« Sie hielt einen Moment inne. »So ein Geheimnis haben wir doch eigentlich schon, oder?«
Soledad blickte sie verwirrt an. Im ersten Moment verstand sie nicht, worauf Alice hinauswollte.
»Ich kann ein Geheimnis für mich behalten«, fuhr Alice, jedes Wort betonend, fort. Sie fühlte sich stark und gnadenlos, wie Viola. »Sonst hätten sie dich schon längst vor die Tür gesetzt.«
Soledad spürte, wie ihr etwas die Kehle zuschnürte.
»Aber…«, brachte sie nur heraus.
»Was ist? Machst du es?«, bedrängte Alice sie weiter.
Soledad schaute zu Boden.
»Einverstanden«, sagte sie leise. Dann wandte sie Alice den Rücken zu und rückte die Bücher im Regal zurecht, während ihr zwei dicke Tränen in die Augen traten.
10
Es war Absicht, dass Mattia sich so leise bewegte. Er wusste, dass die Unordnung in der Welt unweigerlich zunahm, dass die Hintergrundgeräusche des Lebens lauter und lauter wurden, bis sie jedes sinnvolle Signal übertönten, war aber überzeugt, weniger Schuld an diesem langsamen Zerfall auf sich zu laden, wenn er jede Geste ganz bewusst ausführte.
So hatte er es sich angewöhnt, zunächst die Zehenspitzen und dann erst die Ferse aufzusetzen und dabei das Gewicht auf die Außenseiten der Fußsohlen zu verlagern, um die Berührungsfläche mit dem Fußboden möglichst klein zu halten. Eine Technik, die er vor Jahren schon entwickelt hatte, als er nachts aufgestanden und suchend durch die Wohnung geschlichen war, weil sich seine Hände so taub anfühlten, dass er sie überhaupt nur als seine eigenen wahrnehmen konnte, wenn er mit einer Klinge über die Haut fuhr. Mit der Zeit waren diese bizarren, behutsamen Schritte zu seiner normalen Gangart geworden.
Nicht selten geschah es, dass er plötzlich wie ein vom Fußboden
projiziertes Hologramm, mit düsterer Miene und verschlossenem Mund, neben seinen Eltern stand. Einmal war seiner Mutter vor Schreck ein Teller aus der Hand gefallen. Mattia hatte sich gebückt, um die Scherben aufzuheben, und dabei nur mit Mühe der Verlockung dieser scharfen Kanten widerstehen können. Verstört bedankte sich seine Mutter, und als er wieder gegangen war, ließ sie sich auf den Fußboden sinken und blieb dort gut eine Viertelstunde niedergeschlagen sitzen.
Jetzt drehte Mattia den Schlüssel im Schloss der Wohnungstür herum. Er hatte herausgefunden, dass er das metallische Klicken, wenn die Tür aufging, fast vollständig vermeiden konnte, wenn er die Klinke zu sich heranzog und die Handfläche auf das Schloss legte. Und mit dem Verband klappte das jetzt sogar noch besser.
Er huschte in die Diele, steckte den Schlüssel von innen ins Schloss und wiederholte, wie ein Einbrecher in der eigenen Wohnung, den ganzen Vorgang.
Sein Vater war bereits zu Hause, früher als üblich. Mattia verharrte, als er seine Stimme hörte, und überlegte, ob er das Wohnzimmer durchqueren und damit das Gespräch seiner Eltern unterbrechen oder die Wohnung wieder verlassen und so lange draußen im Hof warten sollte, bis er das Licht im Wohnzimmer ausgehen sah.
»… und das finde ich nicht richtig«, schloss sein Vater in vorwurfsvollem Ton.
»Eben«, erwiderte Adele. »Und deswegen tust du lieber so, als wenn gar nichts geschehen, als wenn das alles ganz normal wäre.«
»Was ist denn nicht
Weitere Kostenlose Bücher