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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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besten gehst du gleich ins Bett. Alice protestierte, sie wolle noch fernsehen, und Soledad willigte ein, um sie loszuwerden, unter der Voraussetzung, dass sie das Gerät in der Mansarde benutze.
    Nachdem Alice - laut schlurfend, um die Abwesenheit ihres Vaters auszunutzen - nach oben gegangen war, kehrte Soledad wieder zu ihrem Geliebten zurück. Lange küssten sie sich, etwas unbeholfen und steif nebeneinander sitzend, denn beide waren aus der Übung und wussten nicht, wohin mit den Händen. Dann erst fand Ernesto den Mut, sie an sich zu ziehen.
    Während er mit diesem verdammten Ding kämpfte, das ihren BH zusammenhielt, und sich murmelnd für seine Ungeschicklichkeit entschuldigte, fühlte sie sich jung, schön und verwegen. Sie schloss die Augen, und als sie sie wieder öffnete, sah sie Alice auf der Schwelle stehen.
    » Coño «, entfuhr es ihr. » ¿Qué haces aquí? «
    Sie löste sich von Ernesto und verdeckte rasch mit dem Arm ihre Brüste. Den Kopf etwas zur Seite geneigt, stand Alice da und beobachtete sie, unaufgeregt, wie Tiere in einem Gehege.
    »Ich kann nicht einschlafen«, sagte sie.
     
    Vier Jahre war das her, und genau an diesen Moment musste Soledad jetzt denken, als sie, sich umdrehend, plötzlich Alice
in der Tür des Arbeitszimmers stehen sah. Die Haushälterin war damit beschäftigt, die Bücherwand abzustauben. Immer in Blöcken zu je drei Stück entnahm sie Bände eines Lexikons mit dunkelgrünem Einband und vergoldetem Buchrücken und hielt sie in ihrem bereits schmerzenden linken Arm, während sie mit dem Tuch in der rechten Hand über das Mahagoniholz wischte. Bis in die hintersten Eckchen hinein, denn einmal hatte Anwalt Della Rocca sich beschwert, sie mache nur vordergründig sauber.
    Seit Jahren schon betrat Alice nicht mehr das Arbeitszimmer ihres Vaters. Eine unsichtbare Wand hielt sie zurück und veranlasste sie, stets vor der Schwelle stehen zu bleiben. Denn sie war sich sicher, würde sie auch nur mit den Zehenspitzen dieses regelmäßige, hypnotisierende Parkettmuster berühren, gäbe das Holz unter ihrem Gewicht nach und ließe sie in einen finsteren Abgrund stürzen.
    Der intensive Geruch ihres Vaters lag im Raum, hatte sich abgelagert auf den ordentlich zusammengeschobenen Papierstapeln auf dem Schreibtisch, hatte die dicke cremefarbenen Gardinen durchtränkt. Als kleines Mädchen war Alice hier nur auf Zehenspitzen eingetreten, um ihren Vater zum Essen zu rufen. Dabei hatte sie immer einen Moment gezögert, bevor sie ihn ansprach, gefesselt von der Pose, mit der Papa über dem Schreibtisch thronte, während seine Augen hinter der Brille mit dem silbernen Gestell irgendeines seiner geheimnisvollen Dokumente studierten. Hatte der Anwalt dann seine Tochter bemerkt, nahm er langsam den Kopf hoch und legte, als fragte er sich, was sie hier zu suchen habe, die Stirn in Falten. Dann nickte er und bedachte sie mit einem angedeuteten Lächeln. Ich komme, sagte er.
    Alice war sich sicher, auch heute noch diese zwei kurzen
Worte von den Tapeten des Arbeitszimmers widerhallen zu hören, wie auf ewig eingeschlossen, in ihrem Kopf und zwischen diesen vier Wänden.
    » Hola, mi amorcito «, sagte Soledad. Sie nannte sie auch weiterhin so, obwohl dieses Mädchen, das jetzt, dünn wie ein Bleistiftstrich, vor ihr stand, nicht mehr viel Ähnlichkeit hatte mit dem verträumten Kind, das sie jeden Morgen angezogen und zur Schule gebracht hatte.
    »Ciao«, antwortete Alice.
    Soledad blickte sie einige Sekunden lang an, darauf wartend, dass sie fortfuhr, doch plötzlich wandte Alice nervös den Blick ab, und Soledad machte sich wieder an ihren Regalen zu schaffen.
    »Sol«, sagte Alice schließlich.
    »Ja?«
    »Ich wollte dich was fragen.«
    Soledad legte die schweren Bände auf den Schreibtisch und trat zu Alice.
    »Was denn, mi amorcito ?«
    »Du musst mir einen Gefallen tun?«
    »Natürlich. Was für einen Gefallen?«
    Alice rollte sich den Gummi ihrer Hose um den Zeigefinger.
    »Ich bin Samstag zu einem Fest eingeladen. Bei meiner Freundin Viola.«
    »Das ist aber schön«, lächelte Soledad.
    »Ich würde gerne einen Nachtisch mitbringen. Selbst gemacht. Kannst du mir da helfen?«
    »Aber sicher, mein Schatz. Was wolltest du denn machen?«
    »Keine Ahnung. Einen Kuchen. Ein Tiramisù. Oder auch diese Süßspeise mit Zimt, die du so gut kannst.«

    »Ach, die nach dem Rezept meiner Mutter«, nickte Soledad mit einem Anflug von Stolz. »Ich zeig’s dir.«
    »Dann gehen wir also am Samstag

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