Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
Vom Netzwerk:
Gleichgewicht und verschob sich nach außen, so als würde Alice im nächsten Augenblick seitlich umkippen,
bevor dann auch ihr linker Fuß, schwer wie eine Krücke, den Boden berührte.
    Mattia konzentrierte sich auf diese rhythmisch kreisende Bewegung und stellte, ohne es zu merken, seinen Schritt auf ihren Gang ein.
    Kaum hatte er hinter ihr Violas Zimmer betreten, da huschte sie neben ihn und schloss mit einer Verwegenheit, die sie selbst überraschte, die Tür. So standen sie da, er auf dem Teppich, sie nur ein wenig außerhalb.
    Warum sagt der denn nichts, fragte sich Alice.
    Einen Moment lang hatte sie Lust, es dranzugeben, die Tür wieder aufzumachen und das Zimmer zu verlassen, um wieder normal zu atmen.
    Aber was soll ich dann Viola erzählen, dachte sie.
    »Hier ist es besser, oder?«, sagte sie.
    »Schon.« Mattia nickte. Wie bei der Puppe eines Bauchredners hingen seine Arme schlaff am Körper herunter. Mit dem rechten Zeigefinger war er damit beschäftigt, ein hartes Stückchen Haut zurückzubiegen, das neben seinem Daumennagel hervorstand. Ein Gefühl, als steche er sich mit einer Nadel ins Fleisch, und einen Moment lang lenkte ihn der Schmerz ab von der dünnen Luft in diesem Raum.
    Alice setzte sich auf den Rand von Violas Bett, ohne dass die Matratze unter ihrem Gewicht eingesunken wäre. Sie blickte sich suchend um.
    »Komm, setz dich her«, sagte sie schließlich.
    Mattia gehorchte und nahm, drei Handbreit von ihr entfernt, neben ihr Platz. Wie schweren, keuchenden Atem stie-ßen die Zimmerwände die Musik aus dem Wohnzimmer aus. Alice warf einen verstohlenen Blick auf Mattias zu Fäusten geballte Hände.

    »Ist die Wunde verheilt?«, fragte sie.
    »Fast«, antwortete er.
    »Wie ist das eigentlich passiert?«
    »Ich hab mich geschnitten. Im Biosaal. Aus Versehen.«
    »Kann ich mal sehen?«
    Noch fester ballte Mattia die Fäuste, bevor er die linke Hand langsam öffnete. Eine bläuliche, gerade Furche durchschnitt sie diagonal. Darum herum erkannte Alice kürzere Narben, die heller waren, fast weiß. Die ganze Handfläche war voll davon, und sie kreuzten sich wie die Äste eines kahlen Baumes im Gegenlicht.
    »Ich hab übrigens auch eine Narbe«, sagte sie und schaute dem Jungen fest ins Gesicht.
    Mattia schloss die Hand wieder und steckte sie zwischen die Beine, so als wolle er sie verbergen. Sie stand auf, hob ihr Sweatshirt ein wenig an und knöpfte ihre Jeans auf. Panik ergriff ihn. So weit wie möglich senkte er den Blick, konnte aber dennoch Alices Hände sehen, die den Bund ihrer Hose umkrempelten und eine weiße, von Heftpflaster eingerahmte Mullbinde zum Vorschein kommen ließen sowie, gleich darunter, einen Slip von hellgrauer Farbe.
    Alice zog das Gummiband der Unterhose ein paar Zentimeter vom Körper fort, und Mattia hielt den Atem an.
    »Siehst du?«
    Eine lange Narbe zog sich an dem hervorstehenden Beckenknochen entlang. Sie war gewölbt und breiter als die Wundmale an Mattias Hand. Durch die Nahtspuren, die sie in regelmäßigen Abständen senkrecht durchschnitten, sah sie wie jene Narben aus, die sich Kinder an Karneval zum Piratenkostüm ins Gesicht malen lassen.
    Mattia wusste nicht, was er sagen sollte, und Alice knöpfte
ihre Hose wieder zu und steckte ihr T-Shirt hinein. Dann setzte sie sich wieder, nun etwas näher, neben ihn.
    Für beide war das Schweigen fast unerträglich. In dem Raum zwischen ihren Gesichtern brodelten Erwartungen und Verlegenheit.
    »Gefällt’s dir auf der neuen Schule?«, fragte Alice, um irgendetwas zu sagen.
    »Ja.«
    »Ich hab gehört, du sollst ein Genie sein.«
    Mattia saugte die Wangen in die Mundhöhle und bohrte dann seine Zähne hinein, bis er spürte, dass ihm ein metallischer Blutgeschmack auf der Zunge lag.
    »Lernst du wirklich so gern?«
    Mattia nickte.
    »Und wieso?«
    »Weil ich nichts anderes kann«, antwortete er leise. Er hätte ihr gern gesagt, dass er lernte, weil er dabei allein sein konnte, weil alle Dinge, die man lernte, bereits tot, kalt und durchgekaut waren. Er hätte ihr gern gesagt, dass die Seiten der Schulbücher alle die gleiche Temperatur hatten, dass sie einem Zeit ließen, sich zu entscheiden, dass sie einem nie wehtaten und man selbst ihnen auch nichts antun konnte. Doch er schwieg.
    »Und gefall ich dir?«, fragte Alice, allen Mut zusammennehmend. Ihre Stimme klang ein wenig schrill, und die Hitze schoss ihr ins Gesicht.
    »Ich weiß nicht«, antwortete Mattia sofort, ohne sie anzusehen.
    »Und wieso?«
    »Ich

Weitere Kostenlose Bücher