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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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weiß es eben nicht«, blieb er dabei. »Darüber hab ich mir noch keine Gedanken gemacht.«

    »Über so was muss man doch nicht nachdenken.«
    »Bei mir ist das aber so. Wenn ich nicht nachdenke, verstehe ich überhaupt nichts.«
    »Du gefällst mir jedenfalls ganz gut«, sagte Alice. »Glaube ich.«
    Er nickte. Er war damit beschäftigt, seine Augenlinsen abwechselnd zusammenzuziehen und zu entspannen, um das geometrische Muster des Teppichs scharf und wieder unscharf zu sehen.
    »Willst du mich küssen?«, fragte Alice. Sie schämte sich nicht, doch während sie es aussprach, verkrampfte sich ihr leerer Magen aus Furcht, dass der Junge Nein sagen könnte.
    Einige Sekunden lang rührte Mattia sich nicht. Dann schüttelte er den Kopf, langsam, von einer Seite zur anderen, während er weiter auf den Teppich starrte.
    Weil ihr nichts anderes einfiel, legte Alice nervös die Hände in die Taille und maß ihren Taillenumfang.
    »Ist auch nicht so wichtig«, sagte sie eilig, mit veränderter Stimme. »Aber erzähl es bitte keinem«, fügte sie dann noch hinzu.
    Du bist ein Volltrottel, dachte sie, schlimmer als ein kleines Mädchen in der Grundschule.
    Sie stand auf. Plötzlich kam ihr Violas Zimmer fremd und abweisend vor. Sie war benommen von den bunt tapezierten Wänden, dem mit Schminkutensilien übersäten Schreibtisch und von diesen Ballettschühchen, die wie die Füße eines Gehenkten an einer Tür des Kleiderschranks hingen. Dazu noch das große Foto von Viola am Meer, am Sandstrand liegend und wunderschön, die sich stapelnden CDs neben der Stereoanlage und der Berg von Kleidern auf einem Sessel.
    »Lass uns wieder rübergehen«, sagte sie.

    Mattia stand vom Bett auf. Einen Moment lang schaute er sie an, und Alice kam es so vor, als bitte er sie um Verzeihung. Sie öffnete die Tür, und die Musik flutete ins Zimmer. Ein paar Meter durchquerte sie allein den Flur. Dann fiel ihr ein, was für ein Gesicht wohl Viola machen würde. Sie wartete einen Moment, ergriff ungefragt Mattias starre Hand, und auf diese Weise vereint, kehrten sie in den Trubel des Wohnzimmers der Familie Bai zurück.

14
    Die Mädchen hatten Denis in der Ecke neben dem Kühlschrank eingekeilt, um ein wenig mit ihm zu spielen, und nebeneinander Aufstellung genommen, sodass sie eine Barriere aus erregten Blicken und hin und her gleitenden Haarsträhnen bildeten, die Denis die Sicht auf Mattia im Nebenzimmer versperrte.
    »Pflicht oder Wahrheit«, fragte ihn Viola.
    Denis schüttelte schüchtern den Kopf, wie um zu sagen, dass er jetzt keine Lust auf dieses Spiel habe. Viola verdrehte die Augen und öffnete den Kühlschrank, wobei sie Denis zwang, sich zur Seite zu lehnen, um Platz für die Kühlschranktür zu machen. Sie nahm eine Flasche mit Pfirsichwodka heraus, setzte sie an den Mund und trank einen Schluck, ohne daran zu denken, sich ein Glas zu holen. Mit einem komplizenhaften Lächeln reichte sie ihm die Flasche.
    Denis fühlte sich bereits benebelt und ein wenig angeekelt von dem Whiskey, von dem ihm ein bitterer Nachgeschmack zwischen Nase und Mund geblieben war, doch Violas Auftreten
hatte etwas, dem er sich nicht widersetzen konnte. So nahm er die Flasche entgegen und trank ein wenig, reichte sie dann an Giada Savarino weiter, die gierig zupackte und das Zeug in großen Schlucken wie Orangensaft hinunterkippte.
    »Nun, was ist? Pflicht oder Wahrheit«, wiederholte Viola. »Andernfalls entscheiden wir für dich.«
    »Ich mag dieses Spiel nicht«, entgegnete Denis matt.
    »O Gott. Du und dein Freund, ihr seid wirklich zwei Trantüten«, stöhnte sie. »Dann wähle ich eben und sage: Wahrheit. Also, was fragen wir denn …?«
    Sie legte den Zeigefinger ans Kinn und tat, als überlege sie, indem sie den Blick an der Decke kreisen ließ.
    »Ich hab was«, rief sie. »Sag uns, welche von uns vieren dir am besten gefällt.«
    Verlegen zuckte Denis mit den Achseln.
    »Keine Ahnung«, murmelte er.
    »Was heißt da: keine Ahnung? Wenigstens eine von uns wird dir doch wohl gefallen, oder?«
    Denis dachte, dass ihm tatsächlich keines dieser Mädchen gefiel, dass er sich wünschte, sie würden abhauen, damit er zu Mattia konnte. Dass ihm nur noch eine Stunde blieb, um mit ihm zusammen zu sein, um auch einmal abends zu erleben, dass es ihn gab, zu einer Zeit, da er ihn sich gewöhnlich nur vorstellen konnte, wie er in seinem Zimmer schlief, unter einer Bettdecke, deren Farbe er nicht kannte.
    Wenn ich mich für eine entscheide, werden sie mich

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