Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi
zerfiel.
»Steh doch nicht so blöd herum. Mach ein Foto von mir!«
Mattia nahm die Polaroid vom Bett und drehte sie auf der Suche nach dem Auslöser zwischen den Händen hin und her, während Alice im Türrahmen ein wenig taumelte, wie von einer leichten Brise, die nur sie allein spüren konnte, bewegt. Als Mattia den Apparat vor die Augen nahm, richtete Alice sich auf und blickte ernst, fast herausfordernd ins Objektiv.
»Okay«, sagte Mattia.
»Gut, dann jetzt eins von uns beiden zusammen.«
Er schüttelte den Kopf.
»Komm, sei kein Spielverderber. Wenigstens einmal möchte ich dich anständig angezogen sehen. Und nicht immer in diesem schlabberigen Sweatshirt, das du schon seit Wochen trägst.«
Mattia schaute an sich hinunter. Wie von Motten zerfressen sahen die Ärmel seines blauen Pullis aus. Er hatte es sich angewöhnt, mit dem Daumennagel darüber zu reiben, damit seine Finger beschäftigt waren und er sich die Vertiefung zwischen Zeige- und Mittelfinger nicht weiter aufkratzte.
»Und außerdem, du wirst mir ja wohl hoffentlich nicht meinen Hochzeitstag verderben wollen«, fügte Alice mit einem Schmollmund hinzu.
Sie spielte nur, das war ihr selbst bewusst. Das alles war nichts als ein Scherz, um sich die Zeit zu vertreiben, eine kleine Inszenierung, eine Posse wie so viele zuvor. Als sie dann aber eine Tür des Kleiderschranks öffnete und der Spiegel an der Innenseite sie in dem weißen Kleid, neben Mattia, zeigte, verschlug es ihr für einen Moment den Atem.
»Hier finden wir nichts Anständiges«, sagte sie hastig. »Komm mit.«
Ergeben folgte er ihr. Wenn Alice in dieser Stimmung war, begannen seine Beine zu kribbeln und er bekam Lust, sich schnellstens davonzumachen. Diese aufgedrehte Art, dieser Eifer, mit dem sie ihre kindliche Launen auslebte, war kaum zu ertragen für ihn. Er fühlte sich dann, als hätte sie ihn auf einem Stuhl festgebunden und ein paar Dutzend Leute herbeigerufen, um ihn als etwas ihr Gehörendes, ein putziges Haustier etwa, vorzuführen. Meistens ließ er es geschehen, brachte nur mit Gesten seinen Unmut zum Ausdruck, bis Alice irgendwann, seiner Apathie überdrüssig, die Sache abblies, mit dem Vorwurf: Du schaffst es immer wieder, dass ich mir wie eine Idiotin vorkomme.
Mattia folgte der Brautschleppe seiner Freundin bis zum elterlichen Schlafzimmer. Er hatte es noch nie betreten. Die Rollläden waren fast ganz heruntergelassen, und das Licht
fiel in parallelen Linien ein, die so klar wie auf den Holzfußboden aufgemalt aussahen. Die Luft war noch stickiger und matter als in den anderen Zimmern des Hauses. An der Wand standen ein Ehebett, das sehr viel höher als das von Mattias Eltern war, und zwei identische Nachttischchen.
Alice öffnete den Kleiderschrank und ließ die Finger über die Anzüge ihres Vaters gleiten, die ordentlich aufgehängt in Plastikschutzhüllen an der Stange hingen. Einen schwarzen wählte sie aus und warf ihn aufs Bett.
»Probier den mal«, befahl sie Mattia.
»Bist du verrückt? Das merkt dein Vater doch.«
»Mein Vater merkt überhaupt nichts.«
Einen Moment lang wirkte Alice geistesabwesend, als denke sie über ihre eigenen Worte nach oder als betrachte sie etwas, das hinter dieser Wand aus dunklen Anzügen lag.
»Und jetzt suche ich dir noch ein Hemd und eine Krawatte aus«, fügte sie hinzu.
Unentschlossen stand Mattia da und rührte sich nicht.
»Jetzt mach schon. Oder schämst du dich etwa, dich hier umzuziehen?«
Schon während sie das sagte, verspürte sie ein flaues Gefühl in ihrem leeren Magen. Einen Moment lang kam sie sich unaufrichtig vor. Mit diesen Worten erpresste sie ihn auf subtile Weise.
Mattia stöhnte, setzte sich dann aber aufs Bett und zog sich die Schnürsenkel auf.
Während sie ihm den Rücken zuwandte, tat Alice so, als suche sie nach einem passenden Hemd, das sie in Wirklichkeit aber schon gefunden hatte. Als sie das Klimpern der Gürtelschnalle hörte, zählte sie bis drei und drehte sich dann um. Mattia war gerade dabei, aus der Jeans zu steigen. Darunter
trug er Boxershorts, die aber grau und labbrig und nicht so eng anliegend waren, wie sie es sich vorgestellt hatte.
Alice sagte sich, dass sie ihn schon Dutzende Male in kurzen Hosen gesehen hatte und dass so eine Unterhose etwas ganz Ähnliches war. Und doch spürte sie ein leichtes Zittern unter den vier weißen Schichten ihres Brautkleides. Um nicht so nackt dazustehen, zog er sein T-Shirt weiter herunter und schlüpfte dann in die elegante
Weitere Kostenlose Bücher