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Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi

Titel: Die Einsamkeit der Primzahlen - La solitude dei numeri primi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Giordano
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Hose aus leichtem, weichem Stoff. Als sie über die Beine glitt, lud sich die Behaarung elektrisch auf und stellte sich wie ein Katzenfell auf.
    Alice trat zu ihm und reichte ihm das Hemd, das er, ohne den Blick zu heben, entgegennahm. Er hatte diese sinnlose Inszenierung satt und schämte sich, seine dünnen Arme zu zeigen oder das schüttere Haar auf der Brust und um den Bauchnabel herum. Alice dachte, dass er wie üblich alles daran setzte, die Situation peinlich werden zu lassen. Und mit Sicherheit, so dachte sie weiter, lag für ihn die Schuld daran allein bei ihr. Sie spürte, dass ihr etwas die Kehle zuschnürte, und obwohl es ihr gegen den Strich ging, drehte sie sich um und erlaubte ihm, sein T-Shirt auszuziehen, ohne dass sie ihm zusah.
    »Was jetzt noch?«, fragte Mattia.
    Sie drehte sich um und musste schlucken, als sie ihn in den Kleidern ihres Vaters sah. Das Jackett war ihm etwas zu weit, seine Schultern füllten es nicht ganz aus, aber unwillkürlich dachte sie, dass er einfach phantastisch aussah.
    »Hier, die Krawatte«, sagte sie, nach ein paar Sekunden.
    Mattia nahm die bordeauxrote Krawatte entgegen und fuhr instinktiv mit dem Daumen über das glänzende Gewebe. Ein Schauer durchlief seinen Arm und dann den Rücken hinunter. Er spürte, dass seine Handfläche so rau wie Sand war,
und führte sie an den Mund und hauchte hinein, um sie mit seinem Atem anzufeuchten. Dabei konnte er der Verlockung nicht widerstehen, sich in ein Fingerglied zu beißen, wobei er versuchte, es Alice nicht sehen zu lassen, die es aber natürlich doch bemerkte.
    »Ich kann keinen Schlips binden«, sagte er, die Worte in die Länge ziehend.
    »Komm mal her, du Tollpatsch.«
    Tatsache war, dass Alice den Krawattenknoten beherrschte und darauf brannte, ihm das vorzuführen. Sie war noch ein kleines Mädchen gewesen, als der Vater ihr das Binden beigebracht hatte. Morgens legte er die Krawatte für den Tag auf sein Bett, und bevor er das Haus verließ, schaute er in ihrem Zimmer vorbei und fragte: Ist meine Krawatte fertig, und schon lief Alice ihm mit der fertig geknoteten Krawatte entgegen. Ihr Vater senkte den Kopf und hielt die Hände verschränkt hinter dem Rücken, als verneige er sich vor einer Königin, während sie ihm die Krawatte um den Hals legte. Er zog sie zu und rückte sie sich zurecht. Parfait , sagte er dann. Eines Morgens, nach dem Unfall, hatte er seine Krawatte unberührt, so wie er sie dort hingelegt hatte, auf seinem Bett vorgefunden. Seitdem band er sie sich immer allein, und so war auch dieses kleine Ritual, wie so vieles andere zwischen ihnen, verloren gegangen.
    Alice band jetzt den Knoten und ließ dabei, akzentuierter als notwendig, ihre knöchernen Finger hin und her fliegen. Mattia verfolgte ihre Bewegungen. Kompliziert kamen sie ihm vor, und er hielt still, als sie ihm die geknotete Schlinge um den Hals legte.
    »Wow, du siehst ja fast wie ein feiner Mensch aus. Willst du dich nicht mal im Spiegel anschauen?«

    »Nein«, antwortete Mattia. Er wollte nur noch weg von hier, und zwar in seinen eigenen Kleidern.
    »Ein Foto«, rief Alice, in die Hände klatschend.
    Mattia folgte ihr zurück in ihr Zimmer, wo sie die Kamera zur Hand nahm.
    »Die hat keinen Selbstauslöser. Aber es geht vielleicht auch so«, sagte sie.
    Sie legte einen Arm um Mattias Taille und zog ihn zu sich heran. Er versteifte sich, und sie drückte auf den Auslöser. Zischend glitt das Foto aus dem Apparat.
    Alice ließ sich aufs Bett fallen, genau wie eine Braut nach langen Festivitäten, und fächelte sich mit dem Foto Luft zu.
    Er blieb stehen, wo er war, spürte diese Kleider, die ihm nicht gehörten, am Leib und hatte das angenehme Gefühl, in ihnen zu verschwinden. Da änderte sich plötzlich das Licht im Raum, von Gelb zu einem einheitlichen Blau, denn auch der letzte Zipfel der Sonne war hinter dem gegenüberliegenden Wohnhaus untergegangen.
    »Kann ich mich jetzt endlich wieder umziehen?«
    Er sagte das bewusst vorwurfsvoll, um ihr zu verstehen zu geben, dass er lange genug bei ihrem Spielchen mitgemacht hatte. Alice aber schien tief in Gedanken versunken und zog eine Augenbraue hoch.
    »Da wäre noch eine letzte Sache«, sagte sie, indem sie wieder aufstand. »Der Bräutigam hat die Braut über die Schwelle zu tragen.«
    »Du meinst…?«
    »Ja, klar. Du nimmst mich auf die Arme und trägst mich dort hinüber.« Alice deutete in den Flur. »Dann bist du erlöst.«
    Mattia schüttelte den Kopf. Sie aber trat auf ihn zu

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